Die Abhängigkeit der Industrie von ihren Abnehmern im Lebensmitteleinzelhandel (LEH) hat sich während der vergangenen Jahre stark erhöht. Das ist ein zentrales Ergebnis einer anonymen Befragung, die die Agentur Lademann & Associates (L&A), Hamburg, unter Führungskräften in der deutschen Ernährungsindustrie durchgeführt hat.
„Nach zahlreichen Fusionen und Übernahmen vereint eine Spitzengruppe von vier Handelskonzernen über 85 % des Absatz- und des Beschaffungsmarkts auf sich. Unsere Studie belegt, dass branchenweit eine Umsatzabhängigkeit der Hersteller von den wenigen verbleibenden LEH-Abnehmern entstanden ist“, so Projektleiter Prof. Dr. Rainer P. Lademann.
„Die Industrie gerät immer weiter in die Defensive. Im Durchschnitt entfallen fast 65 % des Umsatzes auf drei Hauptkunden – eine Steigerung um 15 Prozentpunkte in der letzten Dekade.“ Umgekehrt verfügen nur noch 15 bis 20 % der Hersteller über eine ausreichende Markenstärke, um auf Augenhöhe mit der Spitzengruppe der Abnehmer verhandeln zu können.
Einseitig vorteilhafte Gestaltung der Konditionen
Die Befragungsergebnisse von L&A liefern zahlreiche Indizien dafür, dass sich die führenden Handelskonzerne die strukturelle Abhängigkeit der Industrie zunutze machen, um das Konditionengefüge – auch abseits des Verhandlungstischs – einseitig vorteilhaft zu gestalten.
Fast zwei Drittel (63 %) der Hersteller müssen zahlreiche Vorbedingungen akzeptieren, um zu Verhandlungen zugelassen zu werden. Zudem sind knapp 70 % von unlauteren Handelspraktiken betroffen, obwohl mit Inkrafttreten des AgrarOLkG im Juni 2021 die sogenannten schwarzen Praktiken untersagt wurden. Dazu zählen zum Beispiel einseitige Vertragsänderungen, die Nichteinhaltung von Zahlungszielen und kurzfristige Stornierungen.
Auch die in Verhandlungen erzielten Ergebnisse sind von der einseitigen Unverzichtbarkeit der Geschäftsbeziehung geprägt. Die Spitzengruppe der Abnehmer setzt Forderungen gegen den Widerstand der Industrie weitgehend durch, ohne gleichwertige Gegenleistungen zu gewähren. Während des gesamten Verhandlungsprozesses können Sanktions- und Drohpotenziale des LEH zum Tragen kommen. Knapp 80 % der von L&A Befragten sehen sich starken Drohungen der führenden Handelspartner ausgesetzt. Knapp 60 % haben bereits Sanktionierungen erfahren.
Spirale von Fusionen und Marktaustritten
Das beobachtbare Machtgefälle ist nicht auf hartes Verhandeln des LEH zurückzuführen, sondern auf die mittlerweile strukturelle Abhängigkeit nahezu der gesamten Industrie. „Ihre Marktposition und ihre Unverzichtbarkeit für weite Teile der Lieferanten ermöglicht den führenden Handelskonzernen eine kollektive Beherrschung der Beschaffungsmärkte“, erklärt Lademann.
In der Folge sinkt zudem die relative Wettbewerbsfähigkeit des regionalen LEH-Mittelstands gegenüber der Spitzengruppe. So entwickelt sich eine Spirale von Fusionen und Marktaustritten auf Handels- und Industrieseite. Zudem werden dynamische Wettbewerbsfunktionen durch sinkende Innovationsmöglichkeiten der Industrie sowie abnehmenden Absatzwettbewerb im LEH nachhaltig geschwächt.
Daher drohen den Verbrauchern Einbußen bei der Produktqualität und -vielfalt, heißt es. Nicht zuletzt durch die Konsolidierung der Ladennetze ist zu befürchten, dass die durch missbräuchliche Praktiken errungenen Sonderkonditionen immer weniger an den Verbraucher weitergegeben werden müssen.
Im Fokus der Wettbewerbspolitik: Nachhaltigkeit
Die Studie erlaubt eine verlässliche Beurteilung der bestehenden Machtverhältnisse im LEH – auch mit Blick auf Entscheidungen der Kartellbehörden und auf die wettbewerbspolitische Agenda, die sich das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) bis 2025 gesetzt hat. Lademann: „Die ermittelten Befunde unterstützen das Bestreben des BMWK, unfaire Handelspraktiken zu unterbinden und die Missbrauchsaufsicht zu verschärfen. Zugleich belegen sie, dass die Erreichbarkeit wettbewerbspolitischer Nachhaltigkeitsziele in weitere Ferne gerückt ist“, so der Wettbewerbsökonom.