Herr Prof. Martinez, Sie fordern die Aufnahme der Ernährungssicherung ins Grundgesetz – warum?
Martinez: Die Ernährungssicherung ist ein Gemeinwohlinteresse von überragender Bedeutung. Sie beruht zwingend auf einer leistungsfähigen heimischen Landwirtschaft. Die Ernährungssicherung umfasst aber nicht nur die agrarische Produktion von Lebensmitteln, sondern auch den Erhalt einer nachhaltigen Agrarstruktur in Deutschland. Eine einmal zerstörte Agrarstruktur können wir nicht in wenigen Jahren wieder aufbauen. Deshalb müssen wir sie erhalten und schützen. Dieser Belang hat derzeit im Grundgesetz zu wenig Gewicht. Das heißt, wir müssen die Ernährungssicherung im Grundgesetz verankern.
Weshalb steht so eine wichtige Aufgabe noch nicht im Grundgesetz?
Martinez: Als das Grundgesetz 1949 verabschiedet wurde, war die Produktion der heimischen Landwirtschaft eine Selbstverständlichkeit. Das hat sich inzwischen gewandelt. Globale Märkte bzw. zunehmende Lebensmittelimporte aus dem Ausland haben die heimische Produktion erschwert und an Bedeutung verlieren lassen.
Doch aktuelle Entwicklungen wie die globale Ernährungskrise durch den Überfall auf die Ukraine, der erhöhte Nahrungsmittelbedarf aufgrund der wachsenden Weltbevölkerung und der Zerfall der Agrarstruktur durch zunehmende Betriebsaufgaben und Flächenfraß führen uns die Bedeutung der heimischen Landwirtschaft wieder deutlich vor Augen. Und sie erfordern Anpassungen im Grundgesetz, um den Wandel der Zeit mitzutragen.
Was ist denn bislang im Grundgesetz geregelt?
Martinez: Umweltschutz und Tierschutz sind als zwingende Staatsziele im Artikel 20a GG festgehalten. Die Begriffe Ernährungssicherung und Agrarstruktur sind hingegen lediglich als optionale Staatsaufgaben im Grundgesetz definiert. Das heißt, der Staat kann entscheiden, ob er die Landwirtschaft fördert oder nicht. Er muss es nicht.
Welche Folgen hätte es, Landwirtschaft im Grundgesetz zu verankern?
Martinez: Zunächst folgt daraus, dass der Gesetzgeber verpflichtet wäre, die Landwirtschaft regulierend und finanzwirksam zu fördern. Die Verwaltung und die Gerichte müssten bestehende Regelungen so auslegen, dass sie der Ernährungssicherung und der Sicherung der Agrarstruktur dienen. Bei Verwaltungsentscheidungen über Nutzungskonflikte, z.B. bei der Ausweisung von Gewerbeflächen auf landwirtschaftlich wertvollem Boden oder bei der Bewässerung, müssten Verwaltung und Gerichte die höhere Wertigkeit der Landwirtschaft abwägen und ggf. zugunsten der Landwirtschaft entscheiden. Das heißt, für das Gewerbegebiet müsste möglicherweise ein alternativer Standort auf weniger wertvollem Boden gefunden werden.
Wie ließe sich das Ganze umsetzen?
Martinez: Das bestehende Staatsziel in Artikel 20a im Grundgesetz könnte einfach ergänzt werden durch folgenden Satz: In diesem Rahmen fördert der Staat zugleich eine nachhaltige Agrarstruktur zur Sicherung der Ernährungsversorgung.
Gibt es andere Länder, die als Vorbild dienen?
Martinez: Die Schweiz und acht Mitgliedstaaten der EU haben die Ernährungssicherheit verfassungsrechtlich abgesichert. Gerade die Schweiz ist ein gutes Beispiel - sie hat dieses Staatsziel im Jahr 2017 eingeführt, um dem Bewusstsein der Bevölkerung und der Bedeutung dieses zentralen Gemeinwohlinteresses Rechnung zu tragen. Dort zeigt es auch in zahlreichen Gesetzgebungsakten und Fördermaßnahmen Wirkung.
Und auch wir wären durchaus ein Vorbild für andere, denn die Welt schaut sehr genau darauf, was Deutschland im Grundgesetz macht. Unser Grundgesetz ist ein Erfolgsmodell, weil wir es anpassen und fundamentale Entwicklungen aufgreifen. Das müssen wir jetzt auch tun.
Und wann kommt es dazu?
Martinez: Eine Verfassungsänderung erfordert eine Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestags und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrats. Diese Mehrheiten gilt es zu suchen. Soweit sie vorliegen, ist das Verfahren relativ zügig umzusetzen.
Vielen Dank für das Gespräch.