Über den Verein Slow Food hat Marliese Sitter Einblicke in die nachgelagerten Bereiche der Lebensmittelkette bekommen und dabei ihre Perspektive als Landwirtin eingebracht.
Ein Haus im schwäbischen Waldenburg, eine gemütliche Wohnküche und ein Kaffee in der Hand: Marliese Sitter hat ein offenes Lächeln und ist immer für ein Gespräch zu haben. Ihre Neugier auf andere Menschen und das Interesse der Agrarstudentin für die Lebensmittelkette und -produktion brachten sie im Sommer 2018 zur Jugendgruppe des Vereins Slow Food. Die Organisation setzt sich unter anderem für Biodiversität und den Erhalt alter Nutztierrassen und Sorten ein. Zudem ist Slow Food an der im Berufsstand kritisch beurteilten „Wir haben es satt“-Demonstration in Berlin beteiligt.
„Man muss es essen, um es zu erhalten“ und „sich Zeit nehmen zum Genießen“ sind die beiden Leitsätze von Slow Food. Dabei fördert der Verein nicht nur die ökologische Lebensmittelproduktion, sondern auch die Herstellung und den Erhalt regionaltypischer Produkte. „Damit konnte ich mich als Direktvermarkterin von Beginn an gut identifizieren“, sagt Marliese Sitter. Zudem habe sie auf diesem Weg auch alte Nutztierrassen ihrer Heimat Schwaben, z.B. das Limpurger Rind oder Obstsorten wie den Jakob-Fischer-Apfel kennengelernt, berichtet sie.
Raus aus der AgrarBlase
In den Kursen mit Slow Food konnte die junge Agrarstudentin in viele nachgelagerte Branchen des Lebensmittelsektors hineinschnuppern. Insgesamt verbrachte sie acht Wochenenden mit einer 25-köpfigen Gruppe bestehend aus Landwirten, Köchen, Konditoren, Ökotrophologen und Politikwissenschaftlern.
Wer sich für die Kurse anmeldet, hat ein Ziel: Sich in der Branche und darüber hinaus zu vernetzen. An den Themenwochenenden durchlaufen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen zwischen 18 und 35 Jahren verschiedene Stationen entlang der Wertschöpfungskette für Lebensmittel. „Wir haben überall mit angepackt“, sagt Marliese Sitter, die in dieser Zeit unter anderem bei einem Metzger gewurstet hat, auf einem Fischkutter aushalf und auf dem Acker Bodenproben untersuchte. „An einem Abend habe ich sogar spontan einen Melkkurs auf meinem ehemaligen Praktikumsbetrieb gegeben“, sagt sie.
Neben verschiedenen Handwerken zog sie vor allem aus den Fachgesprächen und anschließenden Diskussionen viel Energie und Anregungen für sich. „Dabei habe ich zum ersten Mal richtig erlebt, wie wichtig es ist, in einer Diskussion am Ball zu bleiben, andere Sichtweisen anzunehmen, Bezüge herzustellen und vertiefende Fragen zu stellen“, sagt sie.
Marliese Sitter war es wichtig, ihre Perspektive als Landwirtin dabei immer wieder einfließen zu lassen und z.B. die Problematik des Höfesterbens zu erklären. Ob sie das Thema umfassend genug rüberbringen kann, bezweifelt die junge Frau aber: „Man muss die Gefühle dahinter selbst erlebt haben“, sagt die 26-Jährige.
So war es den anderen Teilnehmern beispielsweise zum Teil ein Rätsel, warum Landwirte nicht einfach weniger produzieren, wenn zum Beispiel die Getreidepreise fallen. „Was für einen Rattenschwanz das nach sich zieht und auch welche Mentalität und Arbeitsmoral die Bauern an den Tag legen, ist für einige Neuland“, sagt sie. Dennoch haben die Fragen und Ideen der anderen Teilnehmer sie auch immer selbst einen Schritt weitergebracht.
Austausch bringt Inspiration
So fuhr Marliese Sitter jedes Mal mit viel Schwung für ihre Projekte in der Direktvermarktung und ihren Lebensweg nach dem Studium nach Hause. „Ich bin immer mit einem Feuerwerk an Ideen im Kopf zurück in den anonymen Unialltag im großen Hörsaal in Hohenheim gekommen und war voller Tatendrang“, sagt sie.
Nach den Exkursionen war der Ausflug in die verschiedenen Bereiche der Lebensmittelbranche für Marliese Sitter aber noch nicht beendet. „Wir stehen alle weiterhin im Austausch und als Ehemalige kann ich mich in den aktuellen Jahrgängen zum Beispiel als Helferin einbringen“, sagt sie – auch wenn die Termine seit der Pandemie fast nur online stattfinden.
Vom weitverzweigten Netzwerk, das sie in diesen acht Monaten aufgebaut hat, profitiert Marliese Sitter weiterhin. „Mit dem Jahrgang aus 2019 habe ich zum Beispiel das Konzept für eine Entdeckertour auf Streuobstwiesen ausgearbeitet“, sagt sie. Bis heute trifft sie sich regelmäßig mit einigen Teilnehmern.
„Ich will die Kontakte ausbauen. Mit der Zeit lerne ich immer mehr über die komplexen Zusammenhänge der gesamten Branche“, sagt Marliese Sitter, die aktuell ihre Masterarbeit schreibt. Dieser Austausch hat auch ihr Interesse für die Agrarpolitik geweckt. Ihr Traum ist es inzwischen, irgendwann einmal in Brüssel zu arbeiten und das Geschehen dort aktiv mitzugestalten.
katharina.meusener@topagar.com