Die Arbeiten waren aufwendig und schwierig. An schlechten Tagen ging aufgrund hoher Grundwasserstände nichts. An guten schritten die Bauarbeiten vielleicht 40 oder 50 m voran. Insgesamt hat es rund ein halbes Jahr gedauert, bis die etwa 4,5 km lange Wärmeleitung fertig war.
Heute verbindet sie die beiden landwirtschaftlichen Biogasanlagen der Familien Niemann und Wolbring mit der Heizzentrale der Bocholter Energie- und Wasserversorgung (BEW) im Fliederweg in Bocholt, Kreis Borken. Erdgas war hier damit gestern. Der Weg ist nun frei für die Versorgung von 600 Wohneinheiten, einer Grundschule sowie einem Pflegeheim im Bocholter Wohnquartier „Feldmark“ mit erneuerbarer Biogaswärme. Doch das ist nicht alles.
Biogas löst Erdgas ab
Bereits vor 20 Jahren haben Josef Wolbring und Johannes Niemann gut und gerne zusammengearbeitet. So haben die Nachbarn bereits im Jahr 2005 jeder eine Biogasanlage gebaut. Nach ähnlichem Konzept mit einer elektrischen Leistung von je 500 kW. Bereits seitdem verkaufen sie auch Wärme: jährlich rund 1,7 Mio. kWh an eine benachbarte Gärtnerei. Nach und nach haben die beiden ihre Anlagen weiter entwickelt, vergrößert und verbessert – immer mehr oder weniger parallel zueinander.
Heute sind ihre beiden Söhne Jan-Bernd und Matthias mit an Bord und haben die jüngsten Entwicklungsschritte und Investitionen begleitet: Je ein neues BHKW mit einer installierten Leistung von 1850 kWel, je ein Gasspeicher, bestehend aus einer auf einem Gärrestlager gebauten Tragluft-Kuppel mit einem Fassungsvermögen von 7700 m3 und je ein neuer 1000 m3 Wärmespeicher. Und zuletzt nun die Wärmeleitung.
„Mit unseren Anlagenkonzepten können wir jetzt beides: Bedarfsgerecht dann Strom produzieren, wenn Wind- und Sonnenstrom im Netz fehlen und gleichzeitig die Bewohner der Feldmark vollständig und abgesichert mit erneuerbarer Wärme versorgen“, sagt Matthias Niemann. Voraussichtlich ab Januar ersetzt die Biogaswärme die Wärme, die die BEW bisher aus Erdgas für das seit über 25 Jahren bestehende Nahwärmenetz im Wohnquartier Feldmark gewonnen hat.
Die Erdgas-BHKW und Öfen in der Heizzentrale am Finkenweg stehen still. Stattdessen gelangt nun die Biogaswärme über eine direkt an der Heizzentrale neuinstallierte Übergabestation mit zwei Wärmetauschern zu den Wohnungen. „Für die Bewohner macht es vom Komfort her keinerlei Unterschied, ob die Wärme in der Heizzentrale aus Erdgas gewonnen wird oder über die Wärmeleitungen von unseren Biogasanlagen stammt“, sagt Josef Wolbring.
Wasser und Heizung bleiben wie gewohnt warm: Die Vorlauftemperatur des Warmwassers, das von den Biogasanlagen kommt, beträgt 85 bis 90 °C. Zurück fließt das Wasser mit rund 60 °C. „Über die Strecke gehen dabei je nach Höhe der Wärmeabnahme etwa 2 bis 3 C verloren“, sagt Johannes Niemann.
Was sich aber ändert, ist der CO2-Ausstoß, der im Wohnquartier über die Wärmeversorgung entsteht: Er sinkt um rund 87 %. Jährlich sind das etwa 1500 t CO2 weniger.
Bauern und Bürger schließen Zehnjahresvertrag
Um das Wärmenetz zu betreiben, haben die beiden Familien eine neue Gesellschaft gegründet: die Naturwärme Bocholt West. Vertragspartner ist die BEW, die die Wärme wiederum an die Abnehmer verkauft. Diese zahlen einen Grundpreis sowie einen verbrauchsabhängigen Leistungspreis. „Die Wärme kostet im Moment etwa so viel, wie Heizöl kosten würde. Allerdings fällt natürlich die Heizung weg“, sagt Niemann weiter.
Die Landwirte haben mit der BEW einen Zehnjahresvertrag mit einer fünfjährigen Preisbindung abgeschlossen. Damit passt die Vertragsdauer gut zu den Biogasanlagen. Denn da beide im Jahr 2005 in Betrieb gegangen sind, läuft die 20jährige Förderung nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) Ende 2025 aus. Bereits im Frühjahr 2023 konnten sich aber beide Familien im Ausschreibungsverfahren die 10jährige EEG-Anschlussvergütung sichern. „Ohne diese ginge es nicht“, sagt Matthias Niemann. Trotz bedarfsgerechter Stromerzeugung und des sehr guten Wärmekonzeptes.
Künftig sollen jährlich mindestens 3,8 Mio. kWh Wärme von den Biogasanlagen in die angeschlossenen Wohnungen fließen. Möglich ist, dass es mehr wird. Das Wärmenetz hat rund 3 Mio. € gekostet und wurde zu insgesamt 55 % vom Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (Bafa) über das Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz (KWKG) und über die Landesförderung progres.nrw gefördert. Die verbleibenden Kosten für das Wärmenetz tragen die Landwirte. Die Übergabestation hat die BEW finanziert.
Zwei Speicherkraftwerke
Aufgrund der großen Wärmespeicher und da zwei Biogasanlagen mit je zwei BHKW an das Wärmenetz angeschlossen sind, können die beiden Familien die Wärmelieferung garantieren – auch, wenn einmal eins der BHKW ausfallen sollte.
Diese Vollversorgung mit Wärme und die bedarfsgerechte Stromerzeugung widersprechen sich tendenziell. Denn nicht immer wenn der Strom knapp ist, wird auch Wärme benötigt – und umgekehrt. Wie die Landwirte dennoch beides unter einen Hut bekommen, erklären sie folgendermaßen:
Beide Biogasanlagen sind fünffach überbaut. Das heißt, dass für eine durchschnittliche Jahresleistung für die Stromerzeugung von 500 kW eine installierte Leistung von insgesamt 2500 kW zur Verfügung steht. Die Stromproduktion kann also zu Zeiten mit hohem Bedarf und gleichzeitig geringem Angebot erfolgen. Diese liegen tendenziell in den Morgen- und Abendstunden der Wochentage. An den Wochenenden und zu den Mittagsstunden ist der Strombedarf meist niedriger. „Zum einem senken wir die Gasproduktion, indem wir von Freitag bis Sonntagmittag die Fütterung reduzieren bzw. Substrate mit geringerem Energiegehalt einsetzen“, sagt Josef Wolbring. An den einzelnen Tagen steuert der Stromdirektvermarkter die BHKW und fährt sie nach Bedarf hoch oder runter, erhöht oder senkt so also die Stromproduktion.
In der Regel werden die Motoren zwei- bis dreimal am Tag gestartet. Auch ein Betrieb in Teillast ist möglich. Zwischen den Starts erhält eine Vorwärmung aus dem Wärmespeicher die Betriebsbereitschaft. Insgesamt schont diese Betriebsweise die Motoren. Reparaturen und Wartungen werden weniger.
Der flexible Anlagenbetrieb wird erst durch ausreichend große Gas- und Wärmespeicher möglich.
Die Betreiber führen ihre Anlagen grundsätzlich orientiert am Wärmebedarf: Da dieser im Winter höher ist, verschieben sie auch den Schwerpunkt der Gasproduktion in die kalte Jahreszeit. Dazu verändern sie in den Übergangszeiten langsam die Fütterung. „Im Sommer senken wir die Gasproduktion soweit, dass wir durchschnittlich 300 kW fahren können. Im Winter erhöhen wir die Gasproduktion, so dass eine elektrische Durchschnittsleistung von etwa 750 kW möglich wird“, sagt Johannes Niemann.
Der beauftragte Stromdirektvermarkter kümmert sich um den bestmöglichen Zeitpunkt der Verstromung – orientiert an der zur Verfügung stehenden Gasmenge, an eventuell anstehenden Wartungen oder Reparaturen und am Wärmebedarf. Dazu stellt ihm die Steuerungstechnik Informationen etwa über den Füllstand der Gasspeicher und die Temperatur im Pufferspeicher zur Verfügung.
Viele Vorteile
„Insgesamt hat der flexible Anlagenbetrieb nur Vorteile“, sagt Josef Wolbring. „Für die Stabilität des Stromnetzes und für unseren Geldbeutel. Denn die Börsenstrompreise schwanken stark. Mal liegen sie nahe bei 20 Cent/kWh dann rutschen sie ins Negative. Da spielt der optimale Vermarktungszeitpunkt eine große Rolle.“ Aber das ist nicht alles, erklärt er weiter. Auch für die Betreiber persönlich habe die Flexibilität Vorteile: Sie können entspannter arbeiten. Kommt es einmal zu einer Störung, lässt sich diese viel stressfreier ausgleichen. Denn auch wenn es etwas länger dauert, bleibt das Gas im Speicher erhalten und muss nicht abgefackelt werden.
Beide Landwirtsfamilien sind sich deshalb einig: Alles richtig gemacht. Bis auf einen kleinen Kritikpunkt: „Aus heutiger Sicht wäre es sinnvoller gewesen, wenn wir die BHKW-Leistung noch weiter erhöht hätten. Statt fünffach wären unsere Anlagen vielleicht besser sieben- oder achtfach überbaut. Das war vor vier Jahren, als wir flexibilisiert haben, mit dem EEG allerdings noch nicht machbar“, resümiert der Landwirt.