Dieser Beitrag ist zuerst erschienen im "Wochenblatt für Landwirtschaft und Landleben".
Axel Duensing sitzt auf einer Holzbank im Stall zwischen Rinder und Schafen und spitzt die Ohren. „Das mache ich jeden Tag etwa eine halbe Stunde“, erklärt der 33-Jährige. „Ich höre genau hin, ob sich die Tierlaute normal anhören oder ob es Auffälligkeiten gibt.“ Wenn Letzteres der Fall ist, gibt der studierte Agrarwissenschaftler einem sehenden Mitglied seiner Familie Bescheid, damit sie die Tiere genauer in Augenschein nehmen.
Schnell gelesen
Axel Duensing hat eine seltene Erbkrankheit und ist in seiner Kindheit erblindet.
Der Agrarwissenschaftler baut sich derzeit eine Zukunft als Berufslandwirt auf.
In den sozialen Medien hat er Tausende Fans, die seinen Alltag als blinder Bauer begeistert verfolgen.
Schleichende Erblindung
Duensing selbst hat eine seltene Erbkrankheit namens Retinopathia Pigmentosa (RP). Er ist seit 20 Jahren laut Gesetz blind, das beutetet, er hat unter 2 % Sehkraft. Damit ist er nicht der Einzige in seiner Familie: Auch eine seiner Schwestern lebt mit der Krankheit. „Mein Großvater war ebenfalls blind – und Landwirt, so wie ich“, erzählt Duensing.
Dass diese Krankheit weitervererbt wird, wusste man damals noch nicht. Auch Duensings Eltern verließen sich auf die damalige Einschätzung der Ärzte. Und dennoch entwickelten zwei ihrer drei Kinder Symptome von RP. „Anders als meine Schwester wusste ich allerdings schon seit ich denken konnte, dass ich erblinden würde“, erzählt Duensing, „deshalb konnte ich besser damit umgehen.“ Als Kind konnte er noch 75 % sehen, Rad fahren und Farben erkennen. Doch die Krankheit verschlechterte seine Sicht, bis nur noch helle und dunkle Schattierungen übrig blieben.
Zwischen Internat und Landwirtschaft
Im Alter von zehn Jahren schickten seine Eltern ihn auf ein Blindeninternat nach Hamburg. Dort sollte Duensing unter anderem Brailleschrift, die Blindenschrift, lernen. „Das war eine gute Idee, denn je älter man wird, desto schwieriger ist es, sich umzugewöhnen. Aber die Zeit für mich im Internat war hart“, resümiert er. „Ich hätte noch länger die Nestwärme von zu Hause gebraucht."
Im Alter von 16 Jahren wechselte Duensing auf ein anderes Internat – ebenfalls für Menschen mit Sehbehinderung. Anders als zuvor, war er nun alt genug, um die Vorzüge eines Internats zu schätzen. An den Wochenenden fuhr Duensing nach Hause. Dort half er oft auf dem landwirtschaftlichen Betrieb seines Vaters mit. „Meine Mitschüler waren damals sehr verwundert, wenn ich erzählte, dass ich zu Hause beim Fällen von Bäumen oder Versorgen der Tiere helfe“, erinnert er sich und lacht.
Studium als Alternative zur Ausbildung
Genau das machte Duensing Spaß. „Ich bin einfach Bauer, das hast du nicht rausgekriegt“, sagt er. Eine Ausbildung kam für den Abiturienten nicht infrage – zu viel Praxis an fremden Orten. Doch seine damalige Freundin und heutige Ehefrau Britta motivierte ihn, sein Ziel zu verfolgen und ein landwirtschaftliches Studium zu absolvieren. Schließlich entschied er sich, Ökologische Landwirtschaft in Witzenhausen zu studieren.
Uni-Prüfung: Pflanzen ertasten
Um gleichwertig an den Vorlesungen teilhaben zu können, stellten die Dozierenden ihm die Folien früher zur Verfügung. So konnte er diese rechtzeitig in Brailleschrift übersetzen lassen. Seine Prüfungen legte Duensing mündlich ab. „Es hieß, eine Prüfung in Blindenschrift vorzubereiten, wäre zu aufwendig“, erklärt Duensing. Das spielte ihm in die Karten – denn geredet hatte der Agrarwissenschaftler immer schon gern. Viele Dozierende versuchten eine möglichst authentische Prüfungssituation für ihn zu schaffen. So pflückte ein Professor bei einer Prüfung zur Pflanzenbestimmung kurzerhand einige Pflanzen, die der Student ertasten musste.
Mittlerweile hat Duensing sein Studium fast abgeschlossen, nur die Bachelorarbeit fehlt noch. Das Thema: Landwirtschaft mit Sehbehinderung. „Das Konzept, das ich dort entwickle, setze ich hier Stück für Stück um“, sagt der Student und deutet auf den Hof hinter ihm.
Ein Hof, unzählige Ideen
Derzeit ist er noch „Hobbylandwirt“. Milch von Kühen und Schafen, Obst und Holz sind ausschließlich für den Eigenbedarf gedacht. „Meine Frau ist Lehrerin. Sie sagt, solange es mit dem Geld gut geht, kann ich meinem Traum nachgehen“, erklärt Duensing.
Sein Vater hatte den Nebenerwerbsbetrieb 2011 aufgegeben. Zum Hof gehören 33 ha Acker- und Grünland, die teilweise verpachtet sind und 10 ha Wald. Doch Duensing möchte ohnehin keinen konventionellen Betrieb leiten. In den vergangenen drei Jahren, seitdem er wieder auf dem Hof wohnt, ist er viele Projekte angegangen – und vieles soll noch kommen. Langfristig würde der Landwirt sich gern eine Nische suchen und in die Direktvermarktung einsteigen. „Aber ich mache mir keinen Druck. Was kommt, das kommt“, sagt er. Große Unterstützer sind dabei seine Frau, sein Vater und seine Schwester, die mit ihrer Familie ebenfalls auf dem Hof wohnt.
"Sehhilfe" per App
Zielsicher läuft der 33-Jährige über Pflastersteine und Rasen und greift nach dem Draht, der seinen Hühnerstall umzäunt. Dann klettert er mühelos darüber. Auf dem Hof nördlich von Bremen kennt Duensing jeden Quadratzentimeter und kann sich sicher und schnell bewegen – ganz ohne Hilfsmittel. Er weiß genau, was wo steht. „Sollte ich mir bei den Futtertüten einmal doch nicht sicher sein, habe ich eine App“, erklärt der Landwirt. „Mit der kann ich Fotos machen und sie beschreibt mir, was zu sehen ist.“ So kann Duensing vieles allein machen: Die Tiere versorgen, die Ställe mit Kompost einstreuen und fräsen, das Brennholz in Kisten schichten …
Blind im Werkstattchaos
„Nur hier in der Werkstatt wird es kompliziert“, sagt Duensing. Zwei Werkbänke und zig Regale mit Werkzeug und Materialien reihen sich hier aneinander. Eine der Werkbänke gehört zwar Duensing, sich hier zurechtzufinden scheint trotzdem unmöglich. „Manche Familienmitglieder legen die Gegenstände einfach irgendwohin zurück, da kann ich nichts machen“, sagt er grinsend. Gemeinsam mit seinem Vater arbeitet Duensing an vielen Bauprojekten: Vom eigenen Mobilstall für die Hühner bis zu selbst geschweißten Boxen zur Kompostierung.
Vorbilder und Gleichgesinnte
Zu alledem motiviert hat ihn unter anderem ein blinder Vollerwerbslandwirt aus Kanada. Den lernte Duensing während seines Auslandsjahrs kennen, das er mit seiner Frau Britta in Amerika verbrachte. Sie arbeiteten auf mehreren landwirtschaftlichen Betrieben über das Wwoof-Programm, wo das Paar inspirierende Menschen wie den blinden Landwirt traf.
Auch dass Duensings Großvater über 30 Jahre den Betrieb trotz seiner Blindheit leiten konnte, begeistert den Junglandwirt bis heute. „Ganz ohne die technischen Hilfsmittel, die ich heute zur Verfügung habe“, sagt Duensing.
Interesse am blinden Hofalltag auf Instagram
Mitten im Wald lehnt eine Leiter an einer dicken Buche. Auf etwa 8 m Höhe steht Duensing und befestigt ein Zugseil. „Blind zu sein hat auf jeden Fall auch Vorteile: Höhenangst habe ich keine“, kommentiert der Hobbylandwirt. Dieses Video ist nur eines von vielen auf seinem Instagram-Kanal, den er Anfang Januar mit seiner Frau ins Leben gerufen hat. Nach zwei Monaten hat er schon über 26 .000 Follower.
„Die Leute interessieren sich für die simpelsten Sachen“, sagt Duensing. „Werden dir hier die Kommentare eigentlich vorgelesen oder wie funktioniert das?“ oder „Mal ne dumme Frage, wenn du alleine im Stall arbeitest, machst du da Licht an? Ich frag mich das ernsthaft, Stalltiere finden das glaube nicht so cool, wenn im Dunkeln Lärm gemacht wird, oder?“, heißt es da.
„Ich weiß, dass das, was ich mache, kurios ist“, meint Duensing schmunzelnd. „Aber wie viele Menschen sich dafür interessieren, hat uns trotzdem überrascht.“ In den Kommentaren gibt es viel Zuspruch für den jungen Landwirt. Außerdem erhält er viele Nachrichten, zum Beispiel von Eltern mit blinden Kindern.
Wenn es weiterhin so gut läuft, hofft er, dass ihm der Account auch bei der Direktvermarktung helfen kann. Außerdem macht Instagram Duensing sichtlich Spaß. Er kramt sein Handy aus der Tasche. „Es ist 11 Uhr 13“ fängt eine metallische Stimme sofort in zweifacher Geschwindigkeit an zu reden. In gleicher Weise lässt er sich auch die Kommentare vorlesen. „Das Hochladen übernimmt Britta“, sagt er.
Kooperation mit John Deere?
Auf Instagram bekommen die Zuschauer nur kurze Einblicke. Bald möchte Duensing jedoch mit längeren Inhalten auf Youtube starten. „Vielleicht ergibt sich ja mal eine Kooperation“, überlegt er augenzwinkernd. „Ich bin zum Beispiel großer John-Deere-Fan. Die haben viele selbstfahrende Maschinen. Dann können die Leute sehen, wie der Blinde auf dem Trecker sitzt.“ Wie mit dem Hof, will Duensing auch auf Social Media alles einfach auf sich zukommen lassen. Bis dahin heißt es weiterhin: Der Natur blind vertrauen.