Ein Gastkommentar von Prof. Dr. Achim Spiller und Prof. Dr. José Martinez von der Universität Göttingen:
Die nächste Bundesregierung wird sich mit dem staatlichen Tierhaltungskennzeichnungsgesetz beschäftigen müssen, da die bisherige Regelung von allen Seiten als unbefriedigend empfunden wird. Grundsätzlich gibt es drei Optionen:
Im bisherigen Sinne weiterentwickeln, also in die Umsetzung bringen und weitere Tierarten einbeziehen.
Das Gesetz wieder abschaffen und auf die Privatwirtschaft vertrauen.
Grundsätzlich reformieren.
Kaum Unterstützung für den Status quo
Es gibt wenig Befürworter für Option 1. So verweist die Zukunftskommission Landwirtschaft (ZKL) darauf, dass eigentlich niemand, weder Wirtschaft noch Tier- und Umweltschutzorganisationen noch Wissenschaft, mit dem derzeitigen Kennzeichen zufrieden sind. Hauptkritikpunkte liegen in der Kriterienauswahl, der Systemorganisation und in der Gestaltung des Labels.
Die Beschränkung auf die Mastphase und auf das Haltungssystem entspricht schon lange nicht mehr dem Stand der Forschung, ebenso wenig der Verzicht auf eine Zertifizierung. Und eine zentrale Schwachstelle der Verbraucherkommunikation ist das Schwarz-Weiß-Label ohne Interpretationshilfe, obwohl Verbraucherstudien sehr eindeutig zeigen, dass nur farblich-interpretative Label, die intuitiv verständlich sind, in einer informationsüberlasteten Gesellschaft funktionieren.
Reicht es, auf die Privatwirtschaft zu setzen?
Also das Gesetz einfach wieder einstampfen und auf das Haltungsform-Zeichen des Lebensmittelhandels vertrauen (Option 2)? Der größte Nachteil wäre, dass dann rund ein Drittel des Marktes, nämlich der Außer-Haus-Markt, nach allen bisherigen Erfahrungen außen vor bleiben wird. Die Gastronomie meidet jedwede Kennzeichnung. Auch bei Verarbeitungsprodukten kennzeichnet nur ein kleinerer Teil der Unternehmen aus eigenem Antrieb.
Ein freiwilliges Label wird nach allen Erfahrungen der letzten Jahre in diesen Märkten nicht umgesetzt. Damit wird selbst im besten Fall deutlich weniger als die Hälfte des verkauften Fleisches gelabelt. Auch gibt es im Markt weitere Zeichen– bis hin zu Fake-Labeln. Der aktuelle Bedeutungsverlust des Nutri-Scores zeigt, dass anspruchsvolle freiwillige Zeichen im Lebensmittelmarkt nicht ausreichend Verbreitung finden.
Der Wissenschaftliche Beirat für Agrar- und Ernährungspolitik (WBAE) empfiehlt deshalb seit längerem drei verbindliche, staatliche Nachhaltigkeitslabel: Für Gesundheit, für Umwelt/ Klima und für das Tierwohl. Es wäre ein Rückschritt, wenn mit der staatlichen Tierhaltungskennzeichnung der erste Einstieg in ein solches verbindliches und für die Verbraucher verlässliches Nachhaltigkeitslabel scheitern würde.
Notwendig: Eine mutige Weiterentwicklung
Deshalb plädieren wir für Option 3, eine mutige Weiterentwicklung. Als Argument gegen ein farblich-interpretatives Label wird dabei immer wieder auf europarechtliche Bedenken verwiesen. Es müsse sich um eine neutrale und nicht-wertende Information über die Haltungsbedingungen der Tiere handeln, nicht um interpretatives Label, so die bisherige Position des Bundeslandwirtschaftsministeriums (BMEL). Diese Argumentation überzeugt weder juristisch noch ökonomisch.
Juristisch greift die Argumentation des BMEL zu kurz. Natürlich darf der Staat, insbesondere im EU-Kontext, nicht willkürlich für bestimmte Produkte werben. Er ist der Neutralität verpflichtet. Neutral meint aber nicht Gleichgültigkeit, sondern Objektivität. Das heißt, dass der Staat mit einem Label differenzieren darf, wenn das Label eine objektive Information widerspiegelt. Objektive Informationen sind wissenschaftlich belegte Erkenntnisse, die sich der Staat zu eigen macht. Es genügt daher nicht, dazu nur die Gestaltung des Labels anzupassen.
Wenn der Staat eine Reihenfolge durch ein farblich-interpretatives Label vorgibt, dann müssen zugleich auch die Tierwohl-Kriterien normativ bestimmt werden, die dem Stand der wissenschaftlichen Forschung zum Tierwohl genügen. Das bedeutet, dass die Kriterien nicht nur das Haltungssystem, sondern auch Tiergesundheit und Tierbetreuung umfassen sollten. Es bedarf einer wissenschaftlich belastbaren Systematik einschließlich einer verlässlichen Zertifizierung.
Das staatliche Tierwohllabel muss alltagstauglich werden
Tierwohl ist ökonomisch eine Vertrauenseigenschaft, die von den Verbrauchern am Endprodukt nicht überprüft werden kann. Sie sind auf verlässliche Marktsignale angewiesen. Und viele Studien zeigen, dass ihnen Tierwohl grundsätzlich wichtig ist, auch wenn die Zahlungsbereitschaft jetzt in Inflationszeiten nicht in den Himmel wächst.
Die Verbraucher wollen wissen, welche Produkte unter hohen und welche unter niedrigeren Standards produziert werden. Zu erwarten, dass sie sich unter „Stall+Platz“ oder „Frischluftstall“ etwas konkretes vorstellen können, verkennt die Entfremdung einer urbanen Gesellschaft von der Landwirtschaft. Es braucht eine einfach interpretierbare, intuitiv erkennbare Kennzeichnung, denn der Durchschnittsverbraucher schaut nur 0,2 Sekunden auf die Verpackung am Regal. Auch greift er zu Hause nur selten zum Smartphone und checkt den QR-Code. Das staatliche Tierwohllabel muss alltagstauglich werden.
Fazit: Ein zukunftsfähiges Label als Teil eines nachhaltigen Politikmixes
Vieles spricht also für die – anspruchsvolle – Weitentwicklung des staatlichen Zeichens, um die Verbraucher neutral, aber verständlich zu informieren und sie dadurch mitzunehmen. Dazu müsste die Übergangsregelung zum Inkrafttreten verlängert werden.
Ein funktionierendes Tierwohllabel kann einen (begrenzten) Beitrag dazu leisten, die Transformation der Tierhaltung durch den Markt zu finanzieren. Andernfalls wird die Umstellung der Tierhaltung allein durch staatliche Förderungen getragen werden müssen. Der erfolgversprechendste Ansatz ist eine Kombination aus einer wirksamen Kennzeichnung und den Empfehlungen der Borchert-Kommission.
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