Unsere Autorinnen, Unser Autor: Prof. Dr. Karsten Donat, Dr. Anne Klassen, Frederike Wehrle (Tiergesundheitsdienst Thüringer Tierseuchenkasse)
Eine drastische Reduktion des Antibiotikaeinsatzes in der Nutztierhaltung ist ein erklärtes politisches und fachliches Ziel. Denn Resistenzen gelten als eine große Gefahr für die menschliche Gesundheit.
Nachdem Tiermäster schon seit einigen Jahren ihre Antibiotika-Verbräuche melden müssen, sind dazu seit Anfang 2023 auch Milchkuhhalter verpflichtet. Aus den Meldedaten leiten sich Therapiehäufigkeiten ab. Bei zu hohen Werten fordert der Gesetzgeber konkrete Maßnahmen zur Reduktion ein. Deshalb stellt sich die Frage: Wo können Milchbauern ansetzen, um weniger Antibiotika einzusetzen?
Antibiotika zum Trockenstellen: Es gibt Einsparpotenzial
Etwa 68 % der verabreichten Antibiotika im Milchviehbetrieb entfallen auf die Therapie von Entzündungen oder Infektionen der Milchdrüse. Das antibiotische Trockenstellen ist wegen der hohen Wirksamkeit besonders wichtig. Trotzdem ist diese pauschale Gabe wohl nicht bei jeder Kuh notwendig.
Darüber hinaus schränken politische und arzneimittelrechtliche Vorgaben der EU den systematischen Einsatz von Antibiotika ein. Somit wird das „selektive Trockenstellen“ immer wichtiger. Gleichzeitig darf die Eutergesundheit nicht leiden. Es braucht ein System, um zu entscheiden: Welche Kuh profitiert von Antibiotika – und welche nicht?
Schnell gelesen
Der "MastiSelekt"-Algorithmus ist ein Daten- und IT-basiertes Entscheidungssystem für das selektive Trockenstellen.
Für eine kuhindividuelle Empfehlung zum Antibiotikaeinsatz beim Trockenstellen werden 15 Kriterien berücksichtigt.
Projektbetriebe in Thüringen haben die Antibiotikagaben zum Trockenstellen deutlich reduziert – ohne langfristigen Einfluss auf die Eutergesundheit.
In Problemphasen oder bei generell erhöhter Zellzahl der Herde ist das selektive Trockenstellen nicht geeignet.
Der Erfolg des Verfahrens ist abhängig vom Management der Eutergesundheit in der Laktation und in der Trockenstehzeit.
Kombination von 15 Kriterien
Diese Frage wollte die Arbeitsgruppe „MastiSelekt“ vom Tiergesundheitsdienst der Thüringer Tierseuchenkasse klären. Auf Basis von Fachliteratur und langjährigen Erfahrungen in der Milchviehberatung hat die Gruppe 15 Kriterien festgelegt, die Landwirte bei der Entscheidung fürs selektive Trockenstellen unterstützen sollen.
Das sind zum einen Faktoren auf Herdenbasis, wie Haltungs- und Hygienebedingungen im Stall (Landwirt und Berater beurteilen gemeinsam als: gut, mittel oder schlecht) oder die Zellzahl auf Herdenniveau. Zum anderen gibt es kuhindividuelle Kriterien, wie die Zellzahlen aus der Milchleistungsprüfung (MLP), Häufigkeit von Mastitiden und Infektionen in der aktuellen Laktation. Ein Element ist auch der neue, tierindividuelle Parameter „Zelldifferenzierung“ (siehe Kasten).
Mehr Infos aus der Milch
Hohe Zellzahl heißt nicht immer Mastitis
Mit der Differenzierung der Zellzahl lassen sich genauere Aussagen über die Eutergesundheit machen. Denn Zellzahl ist nicht gleich Zellzahl: In der Milch eines gesunden Euters überwiegen Makrophagen, sogenannte „Aufpasserzellen“. Bei einer Eutererkrankung ist dagegen der Anteil von Granulozyten erhöht, die Krankheitserreger unschädlich machen.
Die „differenzierte Zellzahl“ (DSCC; engl.: Differential Somatic Cell Count) spiegelt das Verhältnis von Makrophagen und Granulozyten wider. Hohe DSCC-Werte stehen für einen hohen Anteil von Granulozyten und somit für das Vorliegen von Erkrankungen.
In frühem Mastitisstadium sind oft niedrige Zellzahlen (unter 200.000/ml) bei hohen DSCC-Werten (> 65 %) zu finden. Ein DSCC-Wert unter 65 % und eine niedrige Zellzahl deuten auf ein gesundes Tier hin. Viele Milchuntersuchungslabore bieten die Analyse an.
Der Nachweis von kuhassoziierten Infektionserreger (z. B. Galt, Staph. aureus), Mehrfacherkrankungen in der Laktation oder eine erheblich erhöhte somatische Zellzahl werden besonders kritisch bewertet. In den Fällen wird in jedem Fall eine antibiotische Therapie beim Trockenstellen empfohlen.
In den Algorithmus fließen also Daten aus der MLP, aus bakteriologischen Untersuchungen und Gesundheitsdaten (Mastitis-Meldungen) ein. Das Projekt MastiSelekt hat einen Datentransfer zwischen der Thüringer Tierseuchenkasse, Qnetics und dem Rechenzentrum vit programmiert und den Datentransfer zum Herdenmanagementprogramm „Herde“ von dsp Agrosoft ausgebaut.
Algorithmus verknüpft verschiedene Daten
Um eine Handlungsempfehlung für den Antibiotika-Einsatz beim Trockenstellen zu erhalten, schickt der Landwirt Viertelgemelksproben der betreffenden Kühe ins Labor. Die Ergebnisse der bakteriologischen Untersuchung erhält das vit automatisch. Der Landwirt meldet Mastitisfälle über „Herde“ an das vit. Bei diesem Programm besteht bereits eine entsprechende Schnittstelle.
Im nächsten Schritt verknüpft der Algorithmus die Labor-Ergebnisse und Meldungen mit den MLP-Daten und berechnet anhand der festgelegten Kriterien eine tierindividuelle Handlungsempfehlung. Diese erhalten der Landwirt und sein Tierarzt zusammen mit dem Laborbefund. Unabhängig von der Empfehlung: Ob ein antibiotischer Trockensteller verschrieben wird, entscheidet letztendlich immer der Tierarzt.
Der Praxistest
Fünf Milcherzeugerbetriebe in Thüringen haben sich am Projekt MastiSelekt beteiligt. Seit Februar 2022 haben sie das System getestet und Tiere laut Empfehlungen trockengestellt.
In der Projektlaufzeit von 13 Monaten erhielten sie für 2.130 Tiere eine Handlungsempfehlung zum Trockenstellen. Insgesamt hat der Algorithmus für ca. 56 % der Kühe das Trockenstellen ohne Antibiotika empfohlen. Das verdeutlicht das große Potenzial für die Reduktion des Antibiotikaeinsatzes.
Jeder Betrieb hat eine Vergleichsgruppe weiterhin systematisch antibiotisch trockengestellt, obwohl die Empfehlung gegebenenfalls anders lautete. Untersucht wurde dann, wie sich die Gruppen unterscheiden hinsichtlich Mastitis-Fälle in der Folgelaktation, Zellzahl der ersten drei MLPs nach der Trockenperiode und Euterinfektionen.
Ohne Antibiotika: Nicht häufiger Euterkrank
Ein wichtiges Ergebnis ist: Die Zahl der klinischen Mastitisfälle in der Folgelaktation unterscheidet sich nicht zwischen den selektiv trockengestellten (10,6 %) und den Vergleichstieren (9,2 %).
Allerdings hatten die Kühe, die ohne Antibiotika trockengestellt wurden, ein höheres Mastitisrisiko. Bei ihnen lag die durchschnittliche Zellzahl bei der ersten MLP nach der Kalbung bei etwa 80.000 und die von pauschal antibiotisch trockengestellten Tieren bei 48.000 (siehe Übersicht). Zudem waren bei den selektiv trockengestellten Kühen häufiger Mastitiserreger am ersten Tag nach der Kalbung nachweisbar (25,6 %) als bei den Vergleichstieren (12,8 %). Diese Werte gelten als Indikatoren für eine subklinische Mastitis. Das verdeutlicht, dass antibiotisches Trockenstellen subklinische Mastitiden verhindern kann.
Keine Unterschiede zwischen den Gruppen gab es hinsichtlich Erregernachweisen ab dem fünften Laktationstag, der Zellzahl zur dritten MLP und der Zahl klinischer Mastitiden in den ersten 30 Tagen postpartum.
Gesunde Herde ist Basis für selektives Trockenstellen
Wichtig ist: Für den Erfolg des selektiven Trockenstellens ist eine gute Eutergesundheit der Herde nötig. Wann dieser Status gilt, ist betriebsindividuell. Als Richtwert gilt eine Herdenzellzahl in der MLP von unter 200.000/ml.
Wichtig bleiben die Grundsätze: Die Trockenstellpräparate müssen fachgerecht eingebracht werden, die Aufstallung der Kühe in der Trockenstehzeit sollte Neuinfektionen vermeiden und interne Zitzenversiegler bieten zusätzlichen Schutz.
Das Angebot MastiSelekt können Thüringer Milcherzeuger ab 2025 nutzen. Denkbar ist die Ausweitung auf andere Bundesländer.