Am 24. Februar jährt sich der Beginn des russischen Invasionskrieges in der Ukraine zum dritten Mal. Doch trotz der laufenden Angriffe zeigt der ukrainische Agrarsektor Anzeichen der Erholung. Die im Januar vom ukrainischen Landwirtschaftsministerium veröffentlichten Zahlen zum Jahr 2024 zeigen, dass sich die Agrarexporte mit 24,5 Mrd. US-Dollar bzw. 59 % des Gesamtvolumens wieder dem Vorkriegsniveau annähern.
Wie haben die Landwirte es geschafft ihre Produktivität in der Krise wieder zu steigern? Und wie schaffen sie es, zwischen Raketenangriffen und Stromausfall den Kopf nicht hängen zu lassen? Der Agrarunternehmer Alex Lissitsa berichtet vom Verlust ganzer Betriebszweige, Schlafentzug und dem Kampfgeist der Ukrainer.
Liebe zu Land und Boden: So ticken die Ukrainer
Alex Lissitsa ist einer der zehn größten Agrarproduzenten der Ukraine. Der umtriebige Unternehmer lebt in Kiew, wurde jedoch unweit der russischen Grenze geboren.
Im Dezember besuchte Lissitsa Soldaten an der Frontlinie in Saporischschja. In ihrer Station stieß er auf einen kleinen Garten mit Zwiebeln. Gleichzeitig wuchs auf den Feldern ringsherum Winterweizen, in gutem Zustand. „Da sind Landwirte, die an der Frontlinie ihren Acker bewirtschaften und Soldaten, die sich Gärten anlegen.“ Für ihn verkörpert das die Mentalität seines Volkes. Er erklärt: „Wir sind kriegsmüde. Aber egal, was passiert – wir ackern weiter. Die Ukrainer sind tief mit ihrem Land und Boden verbunden.“
Ukraine verliert 19 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche
Der Großteil der von Alex Lissitsa bewirtschafteten Flächen liegt im Kriegsgebiet. Seine Agrarholding IMC S. A. umfasst 120.000 ha verteilt auf drei Regionen: Poltava in der Zentralukraine sowie Sumy und Tschernihiw im Norden.
Zu Kriegsbeginn besetzten russische Soldaten fünf seiner sechs Siloanlagen und rund 100.000 ha von Lissitsas Ackerland. Nach der Befreiung einige Wochen später war ein Drittel der Flächen vermint, mit Schutt bedeckt oder von Kratern übersät. Ähnlich erging es vielen Agrarunternehmen: Durch den Krieg hat die Ukraine nach Angaben des Ministeriums bis heute rund ein Fünftel weniger Anbauflächen in der Bewirtschaftung.
Noch immer kann Lissitsa 7.000 ha nicht bewirtschaften. Neben der Zerstörung ist ein weiterer Grund, dass die Flächen weniger als 5 km von der Grenze entfernt liegen. Es sei zu gefährlich, dort Mitarbeiter hinzuschicken. „Alle zwei Tage attackiert hier eine russische Drohne einen Agrarbetrieb. Meistens zielen sie auf Getreidesilos, inzwischen auch auf die Mähdrescher im Feld“, so Lissitsa.
1.000 Kühe unter russischer Besetzung
Angesichts der Luftangriffe investierte Lissitsa 2024 in ein Drohnenabwehrsystem, um die Sicherheit seiner Feldarbeiter zu gewährleisten. Es sind Maßnahmen wie diese, mit denen der Ökonom sein Unternehmen versucht durch den Krieg zu bringen. Dazu gehören auch schwere Entscheidungen. Vor dem Krieg lag der Schwerpunkt klar auf der Primärproduktion, mit Ackerbau und einer der modernsten Milchanlagen des Landes. „Direkt in der ersten Woche verloren wir die Anlage. Futtermittel und Diesel wurden zerstört, die Mitarbeiter mussten die 1.000 Tiere mit der Hand melken. Nach 40 Tagen russischer Besetzung war die Hälfte der Kühe krank und keine aktive Molkerei mehr erreichbar. Wir mussten die Farm aufgeben.“
Der Transport zum Hafen bleibt herausfordernd
Aus der Not heraus musste er auch in 70 LKW und 300 Eisenbahnwagons investieren, um den Getreidetransport nach Odessa sicherstellen zu können. Diese sind allerdings immer noch kein Garant für den sicheren Transport, so Lissitsa: „„Kürzlich verloren wir 200.000 €, weil vertraglich gebundenes Getreide erst eine Woche zu spät im Hafen ankam – die Eisenbahn konnte keine Lokomotive schicken“, erklärt er.
Ein Risiko bergen auch die regelmäßigen Stromausfälle. Zwar seien alle Betriebswerke mit insgesamt mehr als 30 Ölgeneratoren ausgestattet. Doch der dafür gelagerte Diesel ist ein Risiko. Lissitsa weiß: „Wir müssen genau planen, wir viel wir brauchen, damit nichts im Lager bleibt, falls eine russische Drohne eines beschießt und der Diesel zum Brandbeschleuniger wird. Die Gefahr besteht immer.“
Man könnte meinen, wir sind inzwischen daran gewöhnt, dass fünf bis zehn Mal die Sirenen heulen.“
Aufgrund der ständigen Gefahren im Kriegsgebiet haben inzwischen 400 der 2.000 Mitarbeiter die Holding verlassen oder wurden mobilisiert. Viele flohen in den Westen des Landes. Denn vor allem rund um Sumy bestimme der Bombenalarm die Tage und Nächte, berichtet Lissitsa. „Man könnte meinen, wir sind inzwischen daran gewöhnt, dass fünf bis zehn Mal die Sirenen heulen.“ Doch an Schlaf sei oft nicht zu denken. Der Schlafentzug, die Sorge oder Trauer um Angehörige sorge außerdem dafür, dass sich Betriebsunfälle häufen.
Professionelle Hilfe für traumatisierte Mitarbeiter
Um die Motivation der Belegschaft trotz der schwierigen Umstände aufrechtzuerhalten, setzen Lissitsa und sein Team auf Gehaltserhöhungen und bieten professionelle psychologische Unterstützung an. „Fast jede ukrainische Familie hat Verluste erlitten. Der Tod ist allgegenwärtig“, sagt er und fügt hinzu: „Mir hilft es, hier präsent zu sein, die Armeen und die Dörfer zu unterstützen und effizient zu wirtschaften. Ich brauche das Gefühl, aktiv etwas beitragen zu können.“
Der Personalmangel zwang das Unternehmen auch, produktiver zu arbeiten. Lissitsa vereinfachte sämtliche Prozesse und konzentrierte sich auf die drei wichtigsten Produktionszweige: Winterweizen, Mais und Sonnenblumen. So gelang es der Holding, sich nach zwei Jahren mit roten Zahlen wieder in die Gewinnzone zu manövrieren. Pflanzenschutzmittel und Saatgut für die kommende Saison sind bereits vorbestellt. „Wir arbeiten und planen, als wäre alles ganz normal. Natürlich werden wir täglich bombardiert. Und dazwischen machen wir einfach weiter“, sagt Lissitsa.
Spendenaktion: „Gemeinsam für die Ukraine“
top agrar hat eine Hilfsaktion ins Leben gerufen, die bereits Projekte im Wert von 160.000 € realisieren konnte. Das Spendenkonto der Caritas Münster ist weiter aktiv: Caritasverband für die Diözese Münster e. V., IBAN: DE47 4006 0265 0004 1005 05, BIC: GENODEM1DKM, Verwendungszweck: „Gemeinsam für die Ukraine“.