73 Prozent der energieintensiven Unternehmen könnten künftig ihre Geschäftsaktivitäten ins Ausland verlagern. Die Gründe hierfür seien hohe Strompreise, steigende Energiesteuern und die überbordende Bürokratie, die Produktion in Deutschland unattraktiv machten. Das zeigt die Studie „Energy Outlook 2025: Erfolgsfaktoren für die Energiewende“ der internationalen Beratungs- und Prüfungsgesellschaft Baker Tilly.
Die Unsicherheit bei der Energiewende bremst die Investitionstätigkeit bei Industrie und Energieversorgern (EVU). Top-Entscheider beider Sektoren fordern einen klaren Kurs. Danach geben jeweils knapp 40 Prozent der befragten Unternehmen beider Sektoren an, dass sie sich bei Investitionen zurückhalten (Industrie: 39 Prozent / EVU: 38 Prozent). Als wichtigsten Grund dafür nennen sowohl die Industrie als auch die Versorger die Unsicherheit über Technologien, die zukünftig im Energiesektor zum Einsatz kommen.
Auch das Energiewendebarometer 2024 der Deutschen Industrie- und Handelskammer zeigt: Hohe Preise und fehlende Planbarkeit der Energieversorgung sind für die Unternehmen am Standort Deutschland mehr denn je ein Produktions- und Investitionshemmnis. Demnach verfestigt sich vor allem der Abwanderungstrend bei den Industrieunternehmen: Aktuell erwägen vier von zehn Industriebetrieben, ihre Produktion am Standort Deutschland wegen der Energiesituation einzuschränken oder ins Ausland zu verlagern. Bei den Industrieunternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern denken laut DIHK inzwischen sogar mehr als die Hälfte darüber nach.
Die Bundessprecherin der AfD, Alice Weidel, sieht die Entwicklung als „Folge einer verfehlten Energiepolitik“: Durch die Politik der künstlichen Verknappung und Verteuerung von Energie sei ohne Not die wirtschaftliche Basis der Bundesrepublik zerstört worden. Union, SPD und Grüne ließen die Wirtschaft im Stich, heißt es in einer am 20. Februar veröffentlichten Pressemitteilung.
Keine pauschale Ablehnung der Energiewende
Allerdings ist es nicht richtig, dass die deutsche Unternehmen die Energiewende an sich ablehnen. Wenn man die Baker Tilly-Studie genauer studiert, zeigt sich: Es ist der unklare Kurs bei der Energiepolitik, der zu Unsicherheiten und Investitionsstau führt, nicht die Energiewende an sich. Industrie und Energieversorger sehen Solarenergie und Wasserstoff als zentrale Zukunftstechnologien, aber auch eine zumindest übergangsweise Rückkehr zur Kernenergie findet Zuspruch (Industrie: 53 Prozent / EVU: 75 Prozent). Denn aktuell gehen EVU und Industrie mehrheitlich davon aus, dass die Vorteile der Energiewende durch die dafür notwendigen Aufwendungen überkompensiert werden.
Branchenübergreifender Appell
Vor der Bundestagswahl setzen sich auch Verbände der Finanz-, Start-Up- und Kreislaufwirtschaft, der Energieerzeugung und -effizienz, sowie der Lebensmittel- und Textilproduktion für das Zusammenspiel von Wettbewerbsfähigkeit und klimaneutraler Produktion ein. Die Verbände, die namhafte produzierende Unternehmen vertreten, stehen für über zwei Millionen Arbeitsplätze. Im gemeinsamen Appell fordern sie, dass Deutschland bis 2045 klimaneutral werden muss. Dafür nötig sind Investitionen in Zukunftstechnologien und Infrastruktur, der Ausbau erneuerbarer Energien und mehr Kreislaufwirtschaft.
Hintergrund ist: Unternehmen sehen klima- und umweltbezogene Risiken als die größte Gefahr für die mittelfristige Entwicklung der Wirtschaft (World Risk Report 2025). Der Expertenrat für Klimafragen fordert mehr Ambition ein, wenn Deutschland die Klimaziele erreichen will. CEOs - auch aus der Stahl- oder Chemiebranche - nehmen öffentlich Stellung zur notwendigen Verbindung von Klimaschutz und Wirtschaft. Und doch sei der Klimaschutz im Wahlkampf kaum vorgekommen, so die Unternehmen.
Hinter dem Verbändeappell stehen der Deutsche Sparkassen- und Giroverband (DSGV); der Bundesverband Erneuerbare Energie (BEE); der Bundesverband der Deutschen Entsorgungs-, Wasser- und Kreislaufwirtschaft e. V. (BDE); der Bundesverband Deutsche Startups (BVDS); die Deutsche Unternehmensinitiative Energieeffizienz e.V. (DENEFF); der Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung e.V. (bvse); der Verband Deutscher Metallhändler und Recycler e. V. (VDM) sowie der Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft e.V. (BNW).
Jobs durch Erneuerbare
Seit mehreren Jahren wächst die Zahl der Beschäftigten im Bereich Erneuerbare Energien kontinuierlich. Das zeigt Gesellschaft für Wirtschaftliche Strukturforschung (GWS). Die Beschäftigung durch den Ausbau der erneuerbaren Energien wuchs demnach von knapp 100.000 Personen im Jahr 2000 bis zum Jahr 2011 auf rund 415.000 Personen an. In der Folge wurde bis zum Jahr 2019 ein Rückgang um insgesamt rund 100.000 Beschäftigten verzeichnet. Er wurde durch den Zusammenbruch der einheimischen PV-Industrie ausgelöst und durch deutliche Rückgänge von Investitionen in Neuanlagen auch in anderen EE-Technologien fortgesetzt.
Seit dem Jahr 2020 steigen die Investitionen in EE-Anlagen laut GWS und damit auch die Beschäftigung wieder an. Im Jahr 2023 waren es 406.200 Beschäftigte und damit 26.100 Personen mehr als 2022, was einem Wachstum von etwa 7 % bedeutet.
Die Beschäftigungsquote in der Erneuerbaren-Branche habe sich laut Bundesverband Erneuerbare Energie (BEE) auch in einer herausfordernden Wirtschaftslage positiv entwickelt und bleibe damit weiterhin ein starker und zuverlässiger Jobmotor. Dieser Trend werde sich auch 2024 und 2025 fortsetzen, denn die Branche stelle weiter Mitarbeitende ein.
Um das Tempo zu halten, sind laut BEE nach der Bundestagswahl die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen: Industriepolitisch, um Hersteller und Zulieferer zu stärken und die heimische Wertschöpfung zu sichern. Energiepolitisch, um die wachsende Nachfrage nach Erneuerbarer Energie zu decken. Wirtschafts- und sozialpolitisch, um eine preiswerte Energieversorgung zu sichern.
Einsparen von Importkosten
Dass man die Kosten der Energiewende nicht einseitig sehen darf, zeigen auch folgende Zahlen: Deutschland überweist jedes Jahr zwischen 68 und 131 Mrd. € an Energieunternehmen für den Import von Kohle, Öl und Gas. Auf EU-Ebene sind es zwischen 216 und 515 Milliarden Euro jährlich. Das sind die zentralen Erkenntnisse einer neuen Analyse vom Energieexperten des Öko-Instituts, Felix Matthes. Beauftragt hat die Studie der EU-Parlamentarier Michael Bloss, klima- und industriepolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen im Europaparlament. Für Deutschland alleine betrug die Rechnung im Jahr 2023 über 80 Mrd. €. Zum Vergleich: Die gesamten Investitionen für den Ausbau der Erneuerbaren Energien in Deutschland lagen 2023 bei 37 Milliarden Euro, weniger als die Hälfte der jährlichen Kosten für fossile Energieimporte.
„Keine Industrie ohne Erneuerbare“
Der Landesverband Erneuerbare Energien (LEE) NRW, die Industrie- und Handelskammer Essen sowie das Unternehmen 2G Energy AG setzen gemeinsam darauf, dass die künftige Bundesregierung den Klimaschutz hierzulande forciert.
Für den LEE sind die erneuerbaren Energien ein Standortfaktor, der mitentscheidend für die wirtschaftliche Entwicklung in diesem Land ist. Wind- und Solarstrom seien längst nicht nur wettbewerbsfähig im Vergleich zu den fossilen Energien: „Die Erneuerbaren Energien sind ein Standortfaktor, der mitentscheidend für die wirtschaftliche Entwicklung in diesem Land ist“, sagt LEE-Geschäftsführer Maximilian Feldes.
Deshalb müsse beispielsweise zum 100-Tage-Programm der neuen Bundesregierung die Streichung aller Regularien gehören, die bislang verhindern, dass Industrie- und Gewerbebetriebe in großem Stil mit preiswertem Wind- und Solarstrom direkt beliefert werden können. „Dass es bundesweit bislang nur in Hagen-Hohenlimburg ein Projekt zur Direktbelieferung der Stahlindustrie durch die Windenergie gibt, zeigt wie groß der regulatorische Nachholbedarf ist.“ Dort beliefert ein Windpark des Unternehmens SL Naturenergie GmbH ein Tochterunternehmen von Thyssenkrupp mit preiswertem Ökostrom. Feldes: „Direktbelieferungen bieten Industrie und Gewerbe die Möglichkeit, sich fixe Strombezugspreise für die nächsten Jahre zu sichern und somit eine Preis- und Planungssicherheit zu schaffen.“
Dekarbonisierung wichtig für den Wettbewerb
Politik und Wirtschaft müssten mit dem Märchen aufhören, dass Investitionen in den Klimaschutz maßlos teuer seien. Feldes verweist auf eine jüngste Äußerung von Gunnar Groebel. Der Vorstandsvorsitzende der Salzgitter AG, hierzulande zweitgrößter Stahlhersteller, hatte betont: „Ein gefährlicher Trugschluss: Klimaschutz sei zu teuer und die Transformation der Industrie müsse verlangsamt werden. Aber unsere Industrie kann nur durch konsequente Dekarbonisierung im globalen Wettbewerb bestehen.“
Ähnlich formuliert es Frank Grewe, Vorstand für Forschung und Service bei der 2G Energy AG. Das Unternehmen aus dem westmünsterländischen Heek (Kreis Borken) zählt seit über zwei Jahrzehnten bundesweit zu den führenden Anbietern von Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen und hat im vergangenen Jahr zusätzlich die Fertigung von Großwärmepumpen in der Leistungsklasse von 100 bis 2.700 Kilowatt begonnen: „Gerade bei allen wirtschaftlichen Negativnachrichten bietet speziell die Umsetzung der Energie – und Wärmewende eine riesengroße volkwirtschaftliche Chance.“
Das Beispiel von 2G Energy zeige eindrucksvoll, wie die Symbiose aus Wirtschaftlichkeit und Energieeffizienz einen starken Beitrag zur Wertschöpfung und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze leisten kann. „In den letzten Jahren ist unser Unternehmen auf nunmehr 960 Mitarbeiter angewachsen. Diesen Weg wollen wir weitergehen und technologieübergreifend weiterwachsen. Uns ist auch wichtig, dass viele unserer Vorlieferanten aus dem direkten Umkreis stammen und somit ein starker Fokus auf regionale Wertschöpfung innerhalb von NRW liegt“, erläutert Grewe.
Energiemarktdesign entscheidet
Die Zahl der Aufträge, die Stückzahlen und die Schaffung weiterer Arbeitsplätze sind jedoch in großen Maße davon abhängig, welchen Kurs die neue Bundesregierung in der Klimapolitik einschlägt, betont Grewe und stellt klar, dass das „Wie“ in der Umsetzung eines neuen Energiemarktdesigns von entscheidender Bedeutung sei. „Jedes Unternehmen steht vor der großen Herausforderung, Wirtschaftlichkeit und Klimaschutz miteinander zu verzahnen, um klimaschonend und zugleich wettbewerbsfähig agieren zu können. „Mit unseren dezentralen KWK-Anlagen und Großwärmepumpen beziehungsweise deren Kombination haben wir die passenden Technologien im Portfolio, die für den Energiemarkt in den kommenden Jahren unverzichtbar sind.“ Sein Wunsch an die neue Bundesregierung: „Wir brauchen Planungssicherheit und damit eine rasche Konzeptionierung eines neuen Energiemarktdesigns, das die großen Effizienzvorteile der Dezentralität in hohem Maße berücksichtigt.“
Strukturwandel im Ruhrgebiet
Auch die Industrie- und Handelskammer Essen spricht sich klar dafür aus, dass die künftige Bundesregierung den Kurs- „Pro Klimaschutz“ beibehält. Dazu Hauptgeschäftsführerin Kerstin Groß: "In Nordrhein-Westfalen gab es in den vergangenen Jahren einen deutlichen Zuwachs der Erneuerbaren Energien. Diese Entwicklung begrüßen wir. Wir sind auf den Weg zur Klimaneutralität eingebogen und unsere Unternehmen sind bereit, diesen Weg mitzugehen. Für den Strukturwandel im Ruhrgebiet brauchen wir dabei klare politische und vor allem planungsrechtliche sowie verlässliche Rahmenbedingungen. Dann kann die Energiewende einen nachhaltigen Schub für unsere Region geben, bei dem wir Wirtschaftlichkeit, Klimaschutz und Innovation in Einklang bringen."
Zum Weiterlesen
Die Studie: „Energy Outlook 2025: Erfolgsfaktoren für die Energiewende" finden Sie hier.
Die neuen Zahlen zur Entwicklung der Bruttobeschäftigung in der Erneuerbaren-Branche der Gesellschaft für Wirtschaftliche Strukturforschung (GWS) können Sie hier abrufen.
Die Studie des Öko-Instituts zu Energieimporten finden gibt es auch als pdf.
Hier gibt es das Energiewendebarometer der DIHK.