Der deutsche Energiesektor befindet sich in einem fundamentalen Wandel. Der bisherige Markt soll zu einem flexiblen dezentralen System weiterentwickelt werden, in dem kostengünstige und variable Energiequellen wie Wind und Photovoltaik die zentrale Rolle übernehmen. Denn Deutschland soll bis 2045 klimaneutral werden. Dieser Paradigmenwechsel verändert die Anforderungen an das zukünftige deutsche Strommarktdesign grundlegend. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass das Energiesystem aufgrund des raschen Ausbaus erneuerbarer Energien bei gleichzeitig zunehmender Abschaltung konventioneller Kraftwerke flexibler wird. Da außerdem die Netzanschlusskapazitäten zunehmend knapp werden, gilt es, das vorhandene Stromnetz effizienter zu nutzen. Über diese Herausforderungen und mögliche Lösungen sprachen wir mit Daniel Hölder, Head of Policy and Markets bei BayWa r.e.
Worauf kann die kommende Bundesregierung aufbauen und welche energiepolitischen Projekte sollten bevorzugt umgesetzt werden, um eine erfolgreiche Energiewende zu sichern?
Hölder: Die aktuelle Regierung hat viele gute Rahmenbedingungen geschaffen und nötige Aufgaben abgearbeitet. Die Solarbranche meldet einen erneuten Rekordzubau, bei der Windenergie nehmen die Genehmigungszahlen nach einer längeren Durststrecke wieder zu. Mit der Zunahme der fluktuierenden Energien gibt es jetzt aber verstärkt Diskussionen um Dunkelflauten oder negative Börsenstrompreise, die auftreten, wenn zu wenig oder zu viel Strom aus Wind und Sonne im Netz ist. Mit einem neuen Strommarktdesign kann man das in den Griff bekommen. Hier kann eine neue Regierung auf den Ergebnissen der „Plattforum Klimaneutrales Stromsystem“ (kurz: PKNS) aufbauen, bei der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft gemeinsam an Lösungen gearbeitet haben. Was ich von Anfang an kritisch gesehen habe, ist die Tatsache, dass nur die Koalitionsfraktionen, nicht aber die Oppositionsparteien beteiligt waren. Die Union wird sich daher in die Themen erst noch einarbeiten müssen.
Sie haben bereits die Null- oder Negativpreise angesprochen. Welche Ansätze sind sinnvoll, um diese zu vermeiden?
Hölder: Das Thema hat im Jahr 2024 richtig an Fahrt aufgenommen. War es noch vor wenigen Jahren nur ein Phänomen, das an Weihnachten oder an einem sonnenreichen Pfingstwochenende auftrat, müssen wir mittlerweile im Sommer jeden Mittag damit rechnen. Negative Strompreise sind also eine Folge des erfolgreichen Photovoltaik-Ausbaus.
Woran liegt das?
Hölder: Das hat mehrere Ursachen. Zum einen gibt es zu wenig Flexibilität im Strommarkt. Hierzu gehören flexible Erzeuger wie Biogasanlagen oder eine Verbrauchsverschiebung. Auch wenn das Thema seit über einem Jahrzehnt bekannt ist, haben alle Regierungen bisher versäumt, entsprechende Hemmnisse abzubauen. Viele Regelungen stammen noch aus einer Zeit, in der Grundlast produzierende Großkraftwerke das System geprägt haben. Zum anderen sind es aber auch die vielen kleinen Photovoltaikanlagen, deren Einspeisung nicht gesteuert wird. Das ist bei Wind- oder Solarparks sowie bei Biogasanlagen anders, sie werden von den Direktvermarktern preisabhängig gesteuert und lassen sich vom Netzbetreiber bei Engpässen abregeln.
Aber es gibt doch immer mehr Heimspeicher. Lösen sie das Problem der kleinen Solaranlagen nicht?
Hölder: Batteriespeicher sind zwar in relevantem Umfang vorhanden, aber es gibt bislang keinen Anreiz, sie systemdienlich zu betreiben. Wenn morgens die Sonne aufgeht und die Preise am Strommarkt hoch sind, werden mit dem Strom, der nicht unmittelbar selbst verbraucht wird, zuerst die Speicher aufgeladen. Gegen Mittag, wenn am meisten Solarstrom produziert wird und die Preise am Markt niedrig sind oder sogar ins Negative drehen, sind die Speicher dann voll und die Anlagen speisen ihre komplette Produktion ins Netz. Sinnvoller wäre es natürlich, wenn der Strom eingespeist würde, solange die Preise hoch sind, und die Speicher geladen würden, wenn die Marktpreise niedrig sind. Großspeicher werden selbstverständlich genau so gefahren, weil sie am Spotmarkt vermarktet werden.
Was müsste sich dafür ändern?
Hölder: Die Betreiber von Heimspeichern „sehen“ keine Marktpreise, weil es keine Smart Meter und damit keine flexiblen Tarife gibt. Das muss sich dringend ändern. Dann würden sehr schnell neue Geschäftsmodelle entstehen, bei denen die Betreiber mehr verdienten und gleichzeitig das Stromsystem durch eine bedarfsgerechtere Einspeisung profitieren würde. Dieser Weg ist aus meiner Sicht der schnellere und einfachere als eine starke Absenkung der Schwelle für die Verpflichtung zur Direktvermarktung. Gegen diese ist grundsätzlich nichts einzuwenden, sie erfordert aber massentaugliche Wechselprozesse, von denen Regeln für die Direktvermarktung und die Netzbetreiber noch weit entfernt sind. Ein erster richtiger Ansatz ist, dass Erzeuger bei negativen Strompreisen keine Förderung mehr erhalten sollen.
Wie könnte ein zukünftiges Stromversorgungssystem mit Speichern und Hybridkraftwerken aussehen und welche Marktanreize für flexible Kapazitäten sollten geschaffen werden?
Hölder: Wir brauchen mehr Flexibilität im Stromsystem. Dafür müssen wir Regelungen abschaffen, die Verbraucher zu einem möglichst gleichmäßigen Stromverbrauch anreizen und als Hemmnis für flexibles Verhalten wirken. Dazu gehört insbesondere, dass die Netzentgeltrabatte für stromintensive Industriekunden nur bei einen gleichbleibenden Stromverbrauch gewährt werden und dadurch wie ein Flexibilitätsverbot wirken. Auch die Berechnung von Leistungspreisen steht flexiblem Verbrauch entgegen. Eine Förderung für flexible Verbraucher und Batterien brauchen wir nicht, die schwankenden Marktpreise sind genügend wirtschaftlicher Anreiz. Das sehen wir derzeit an dem großen Interesse daran, Großbatteriespeicher zu bauen. Wir müssen allerdings aufpassen, dass wir im Strommarktdesign keine Regelungen einführen, die diese schwankenden Preise künstlich beschränken.
Wie passt das mit der Vorgabe zusammen, dass bis 2030 neue große fossile Gaskraftwerke gebaut werden sollen?
Hölder: Damit schränken wir die Flexibilität potenziell ein. Eine zentrale Planung und Förderung des Baus von Gaskraftwerken wird zu Überkapazitäten führen. Das sorgt für einen weniger optimalen Anlagenmix im Markt. Dadurch wird Flexibilität weniger attraktiv und der Wert des Stroms aus Wind und Sonne sinkt. Wir wollen aber einen marktgetriebenen Ausbau der erneuerbaren Energien, und der findet nur statt, wenn der Strom aus den Wind- und Solarkraftwerken viel wert ist. Wir sollten daher Preisschwankungen zulassen und nicht durch neue Regelungen deckeln. Und was ich auch wichtig finde: Statt wenigen Großkraftwerken, die nur Strom produzieren, brauchen wir dezentrale, flexible Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen, die neben Strom auch Wärme liefern.
Welches Potenzial haben Großspeicher für das zukünftige Stromnetz und welche möglichen negativen Auswirkungen hat hierbei der Baukostenzuschuss?
Hölder: Großspeicher können helfen, Netzengpässe zu entlasten. Der Baukostenzuschuss, den Batteriebetreiber an den Netzbetreiber zahlen müssen, ist ein zusätzlicher Kostenfaktor und kann höchstens den Standort der Anlage beeinflussen. Sobald die Anlage gebaut ist, wirkt der Baukostenzuschuss nicht mehr. Er ist hilft also nicht bei der Optimierung des Netzbetriebs. Es gibt aus meiner Sicht auch keine wirklich falschen Standorte für Speicher, sondern nur einen „falschen“ Betrieb eines Speichers an einem bestimmten Standort.
Wann wird ein Speicher falsch betrieben?
Hölder: Ein Beispiel: Wenn wir bei viel Wind in Norddeutschland in ganz Deutschland einen niedrigen Strompreis haben, kann es einen Engpass im Stromnetz zwischen Nord- und Süddeutschland geben. Wenn dann in Süddeutschland der Betreiber seinen Speicher bei niedrigen Preisen aufladen möchte, verstärkt das den Netzengpass in der Mitte von Deutschland. Denn er reagiert ja nur auf den bundesweiten Strompreis, nicht auf die Netzengpasssituation.
Wie kann man das Problem lösen?
Hölder: Es gibt aus meiner Sicht verschiedene Möglichkeiten, den netzdienlichen Betrieb von Batteriespeichern anzureizen. Beispielsweise eine Netzampel, die im oben genannten Fall anzeigt, dass ein Netzengpass vorliegt und im betreffenden Netz kein Aufladen von Batterien stattfinden sollte. Dann könnte man Batteriespeichern, die sich diesem Regime unterwerfen, einen bevorzugten Netzzugang gewähren. Ein anderer Weg wäre, mit variablen Netzentgelten zu arbeiten, so dass der Betreiber eines Batteriespeichers in einigen Stunden eine „Strafe“ in Form eines Netzentgelts zahlt, wenn er Strom bei hohem Bedarf zusätzlich einspeichert und er dafür in anderen Stunden einen „Bonus“ in Form eines negativen Netzentgelts erhält, wenn er bei Überschüssen Strom aufnimmt. Außer in Engpasssituationen sollte es allerdings so sein, dass Batteriespeicher keine Netzentgelte bezahlen müssen, damit sie unverfälscht auf die Preise am Strommarkt reagieren können.
Was halten Sie in diesem Zusammenhang von verschiedenen Strompreiszonen innerhalb von Deutschland, wie sie aktuell diskutiert werden?
Hölder: Ich kann den Ansatz, Netzengpässen im Stromhandel durch Preiszonen zu begegnen, akademisch nachvollziehen, glaube aber nicht, dass es wirklich die Lösung sein wird. Eine Strompreiszonentrennung wird sehr aufwendig und die Übertragungsnetzbetreiber sagen, wir brauchen drei Jahre, um das umzusetzen. In dieser Zeit haben wir jedoch hoffentlich erhebliche Fortschritte bei den Netzausbauprojekten, sodass die Grenze zwischen den Preiszonen vermutlich woanders liegen müsste. Zudem lösen wir mit Preiszonen die Probleme in den Verteilnetzen nicht. Hier müssen wir an variable Netzentgelte denken, um die richtigen Anreize zu gewährleisten.
Welches Potenzial hat die Überbauung von Netzanschlüssen, um die Kapazitäten der vorhandenen Anschlusspunkte möglichst effizient und gewinnbringend nutzen zu können?
Hölder: Die Überbauung halten wir für einen ganz zentralen Punkt, weil sie jetzt Probleme lösen kann, während der Netzausbau noch Zeit braucht. Wir können im Ausbau der erneuerbaren Energien vorangehen und vorhandene Netzanschlüsse besser nutzen. Durch die Überbauung der Netzanschlüsse wird die Netzinfrastruktur besser ausgelastet. Das muss das Ziel sein. Die Überbauung von Netzanschlüssen ist übrigens heute schon möglich und wird von uns praktiziert. Allerdings ist sie vom Wohlwollen des betroffenen Netzbetreibers abhängig. Wichtig ist, dass neue gesetzliche Regelungen zur Überbauung von Netzanschlüssen diese zu Standard machen, ohne dazu zu führen, dass die Pflicht zum Netzausbau eingeschränkt wird. Der Netzausbau soll weiter vorangetrieben werden.
Wo sehen Sie die Zukunft der Bioenergie? Findet sie noch ihren Weg oder wird sie irgendwann überflüssig, wenn wir immer mehr Speicher haben?
Hölder: Die Speicher werden nicht alles machen können. Heute werden die Speicher meist auf eine Kapazität von zwei bis vier Stunden ausgelegt. Ich gehe davon aus, dass wir irgendwann Speicher für acht oder sogar zehn Stunden sehen werden. Der Batteriespeicher wird den Tageslastgang ausgleichen, nicht nur im Sommer. Der Batteriespeicher hat auch in der Dunkelflaute seine Funktion im Ausgleich des Tageslastgangs. Er wird aber keinen Solarüberschuss aus dem Sommer in die Dunkelflaute verschieben können. Ich halte die Bioenergie dagegen für den Ausgleich von wöchentlichen oder monatlichen Schwankungen für wichtig. Die Branche hat verstanden, dass Flexibilität nötig ist. Wenn die Betreiber von Bioenergieanlagen konsequent flexibilisieren, kann ein erheblicher Teil des Back-Up über Biogas laufen.