Der aktuelle Situationsbericht des DBV beschäftigt sich auch mit der Erweiterungspolitik der EU. Bisher im Gespräch ist der Beitritt von Albanien, Bosnien und Herzegowina, Georgien, Kosovo, Moldau, Montenegro, Nord–Mazedonien, Serbien, der Türkei und der Ukraine.
Die Aussicht auf eine EU–Mitgliedschaft bildet in der Regel einen starken Anreiz für demokratische, rechtsstaatliche und wirtschaftliche Reformen in europäischen Ländern, die der EU beitreten möchten. Will ein Land der EU beitreten, so muss es beim Rat der Europäischen Union einen Antrag auf Mitgliedschaft stellen. Danach prüft die Europäische Kommission auf Ersuchen des Rates, ob das Land in der Lage ist, die Beitrittskriterien zu erfüllen.
Anhand der Empfehlungen der Kommission entscheidet der Rat, ob das Land den Beitrittskandidatenstatus erhält und Verhandlungen über seinen Beitritt aufgenommen werden. Alle EU–Mitgliedstaaten müssen damit einverstanden sein.
Übernahme des „EU–Besitzstandes“ als Beitrittsvoraussetzung
Sind die Beitrittsverhandlungen gestartet, so bereitet sich das Bewerberland auf die Umsetzung der EU–Rechtsvorschriften und –Normen, auch Besitzstand oder „Acquis“ genannt, vor.
Der Besitzstand der EU ist in 35 Kapitel unterteilt, die jeweils einen bestimmten Politikbereich abdecken, so auch den Bereich Landwirtschaft in Kapitel 11. Die Kommission überwacht, ob das Land Fortschritte bei seinen Reformen erzielt, und hält den Rat und das Europäische Parlament durch regelmäßige Berichterstattung auf dem Laufenden.
Nach Abschluss der Verhandlungen gibt die Kommission eine Einschätzung dazu ab, ob das Bewerberland reif für den Beitritt ist und ob die EU ihrerseits in der Lage ist, einen weiteren europäischen Staat aufzunehmen. Ist das nach Ansicht der Kommission der Fall, wird ein Beitrittsvertrag mit den Beitrittsbedingungen ausgearbeitet.
Alle EU–Mitgliedstaaten müssen einem Beitritt zustimmen
Die Kommission, der Rat und das Europäische Parlament müssen dem Beitrittsvertrag zustimmen, bevor er von allen EU–Mitgliedstaaten und dem Bewerberland nach den jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften (parlamentarische Abstimmung, Referendum usw.) unterzeichnet und ratifiziert werden kann. Das Bewerberland tritt der EU schließlich zu dem im Beitrittsvertrag festgelegten Datum offiziell bei.
Der Beitrittsvertrag enthält die detaillierten Bedingungen und Konditionen der Mitgliedschaft, alle Übergangsregelungen und Fristen sowie Einzelheiten zu den finanziellen Regelungen und etwaigen Schutzklauseln. Bis der Beitrittsvertrag in Kraft tritt, kann das Beitrittsland von Sonderregelungen profitieren, wie z. B. der Möglichkeit, Entwürfe von EU–Vorschlägen, Mitteilungen, Empfehlungen oder Initiativen zu kommentieren, und vom Status eines “aktiven Beobachters” in EU–Gremien und EU–Agenturen (mit Rede–, aber ohne Stimmrecht).
EU vor Anpassungen des EU–Vertrages?
In der öffentlichen Wahrnehmung hat die EU der 27 mehr und mehr Schwierigkeiten, in ihrem Weiterentwicklungsprozess voranzukommen. Mit einem Europa der 35 oder 37 würde das noch schwieriger. Je mehr Staaten dazugehören und somit in wichtigen Fragen über ein Veto–Recht verfügen, desto geringer ist die Chance, bei Reformen der EU gemeinsam weiterzukommen.
Es gilt daher als wahrscheinlich, dass bei den in Aussicht stehenden EU–Erweiterungen auch Änderungen an den EU–Verträgen vorgenommen werden, um die EU–Organe zu reformieren und der EU neue Zuständigkeiten zu übertragen.
Ukraine, das landwirtschaftliche Schwergewicht unter den Beitrittskandidaten
Abgesehen von der Türkei, wo die Beitrittsgespräche seit 2016 de facto auf Eis liegen, und im Vergleich zu den zahlreichen Beitrittskandidaten des Balkans und zum Bewerberland Georgien ist die Ukraine das Schwergewicht unter den Beitrittskandidaten. Das gilt ganz besonders im Hinblick auf die Landwirtschaft.
Auf Grund des hohen Umfangs an Agrarfläche ist die Ukraine europa- und weltweit ein wichtiger Akteur bei Weizen, Mais und Ölfrüchten, auch nach dem Kriegseintritt im Februar 2022. Die ukrainische Zucker–, Geflügelfleisch– und Eiererzeugung leisten ebenfalls einen vergleichsweisen hohen, aber deutlich geringeren Beitrag zur europäischen Produktion.
Dagegen haben die Rinder–, Schweine– und Milcherzeugung nur eine geringe Bedeutung. Die Rinder– und Schweinehaltung ist in den vergangenen Jahrzehnten stark zurückgegangen. Die Milchproduktion findet überwiegend in den Hauswirtschaften statt.
Agrarexporte haben für die Ukraine eine große wirtschaftliche Bedeutung und machten an den Gesamtexporten des Landes zuletzt zwischen 41 % (2021) und 46 % (2023) aus.
Mögliche Auswirkungen auf die EU–Landwirtschaft
Experten sind sich darin einig, dass der Zustrom ukrainischer Produkte vom Agrarsektor der übrigen EU bewältigt werden muss. 80 % der Gesamt-LF der Ukraine sind Ackerland. Es umfasst 33 Mio. ha und entspricht damit einem Drittel der Ackerfläche der gesamten EU–27.
Gut drei Viertel davon sind fruchtbare Schwarzerde-Böden. Experten sind sich aber auch darin einig, dass ein EU–Beitritt der Ukraine die strategische Lage der Europäischen Union auf den weltweiten Agrarmärkten verbessern würde.
Die Weltagrarmärkte für Getreide und Ölsaaten funktionieren in einem System kommunizierender Röhren, so dass sich die Preiseffekte häufig nur durch Marktmacht erzielen lassen. Zudem wird argumentiert: Wenn die Ukraine zukünftig EU–Standards einhält, wird dort ebenso umweltfreundlich und nachhaltig produziert wie in der gesamten EU. Umgekehrt wächst mit einem EU–Beitritt der Ukraine die Kaufkraft der 30 bis 40 Mio. Ukrainer und damit auch die Nachfrage nach Nahrungsmitteln aus den bisherigen EU–Staaten.
Aspekte finanzieller Auswirkungen
Nach Berechnungen des Institutes der deutschen Wirtschaft (IW) von Dezember 2023 hätte die Ukraine im Fall eines Beitritts und bezogen auf den Zeitraum 2021–2027 Anspruch auf EU–Agrarzahlungen (Direktzahlungen, Marktmaßnahmen und Förderung ländlicher Räume) in einer Spannweite von 70 bis 90 Mrd. €.
Grund dafür sind die großen Agrarflächen des Landes. Damit würde die Ukraine weit mehr als Rumänien (21 Mrd. €) oder auch Polen (31 Mrd. €) aus der Gemeinsamen Agrarpolitik erhalten.
Mit 65 Mrd. € erhält derzeit Frankreich mit weitem Abstand die meiste EU–Agrarunterstützung. Eine Vollmitgliedschaft der Ukraine auf Basis des derzeitigen Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) würde insgesamt 130 bis 190 Mrd. € Mehrausgaben oder 17 % des bisherigen EU–Gesamtbudgets zur Folge haben.
Agrarstruktur der Ukraine im Überblick
Hauswirtschaften:
4,5 Mio. Hauswirtschaften bewirtschaften durchschnittlich 1,24 ha LF, zusammen 5,6 Mio. ha LF (14 % der Gesamt–LF). Die Hauswirtschaften (ohne juristischen Status, ohne staatliche Förderung bzw. Besteuerung) produzieren hauptsächlich für den Eigenbedarf und lokale Märkte (Subsistenz– oder Semi–Subsistenzwirtschaft). Sie sind relativ bedeutend für die Produktion von Gemüse, Obst, Kartoffeln, Fleisch, Eiern und Milch.
Landwirtschaftliche Unternehmen:
Fast 30 Mio. ha LF (bis zu 71 % der Gesamt–LF) werden von rund 40.000 registrierten Landwirtschaftsunternehmen bewirtschaftet. Dazu gehören Familienunternehmen mit einer Durchschnittsgröße zwischen 50 und 100 ha ebenso wie 8.600 Kolchos–/Sowchos–Nachfolgebetriebe in unterschiedlichen Rechtsformen mit einigen hundert bis mehreren tausend Hektar Flächenausstattung.
Agrarholdings:
Zahlreiche landwirtschaftliche Unternehmen gehören einem Eigentümer und bilden die vielzitierten Agrarholdings. Diese bewirtschaften je nach Schätzung 6 bis 9 Mio. ha LF (15 bis 22 % der Gesamt–LF) und haben sich mit der Übernahme von landwirtschaftlichen Unternehmen vor allem auf exportorientierte Agrarrohstoffe wie Getreide und Ölsaaten konzentriert.
Viehhaltung und andere arbeitsintensive Produktionszweige wurden zurückgefahren. Die 10 größten Agrarholdings mit jeweils mehr als 100.000 ha Bewirtschaftungsfläche bewirtschaften 2,6 Mio. ha Ackerland. 22 Unternehmen mit mehr als 50.000 ha LF bewirtschaften 5 Mio. ha LF (12 % der Gesamt–LF).
In der Regel haben die Agrarholdings ein zentrales Management für Ein– und Verkauf und kontrollieren mit ihren zahlreichen Betriebsstätten die gesamte Wertschöpfungskette von der Produktion bis hin zum Export.
Großunternehmen und Holdings genießen in der Ukraine häufig eine hohe Wertschätzung. Ländliche Regionen profitieren vom sozialen Engagement der Unternehmen in den Dörfern. Die Akzeptanz wird auch durch die Sichtbarkeit der Unternehmen und ihrer Führungskräfte vor Ort und in den sozialen Medien befördert.
Auf Grund nicht vollständiger Kataster– und Registerdaten können Statistiken zu Betriebs– und Bodenstrukturen nur als Näherungswerte betrachtet werden. Alle vorgenannten Werte beziehen sich auf das Vorkriegsjahr 2021 (ohne Krim und die 2014 besetzten Teile der Regionen von Donezk und Luhansk). Durch den Krieg hat die Ukraine rund ein Fünftel bis ein Viertel weniger Agrarflächen in der Bewirtschaftung.
Agrarholdings – Eigentümerstrukturen
Das Unternehmen „UkrLandFarming“ führt die Liste der Agrargiganten an. Es hat 670.000 ha unter dem Pflug und ist damit der weltweit achtgrößte Agrarkonzern. Er befindet sich im Eigentum eines Multimillionärs, der mit „Avangardco IPL“ zugleich die meisten Hühnereier in Europa produziert.
„UkrLandFarming“ ist in Zypern angemeldet. An zweiter Stelle der ukrainischen Agrarriesen fungiert die „Kernel Holding“ mit 530.000 ha Land. Dieses Unternehmen ist der weltgrößte Erzeuger und Exporteur von Sonnenblumenöl sowie der größte ukrainische Erzeuger und Exporteur von Getreide mit Sitz in Luxemburg. Sein Eigentümer gehört zu den zehn reichsten Männern des Landes.
Mit „NCH Capital“ und „PIF Saudi” haben sich auch US–amerikanische und saudische Firmen mit jeweils 300.000 ha Landwirtschaftsfläche in Stellung gebracht. Dem Vernehmen nach fungieren ukrainische Agrar–Oligarchen häufig als Strohmänner großer Kapitalgruppen aus den USA, Westeuropa oder Saudi–Arabien.
Weil ausländischer Besitz an Grund und Boden nach wie vor nicht erlaubt ist, sichern sich Westkonzerne und international agierende Banken ihren Einfluss auf die Böden über die Kreditschiene. Gläubiger der „Kernel Holding“ sind die dänische Bankengruppe ING Bank, die Landesbank Baden–Württemberg und die österreichische Raiffeisen. Hinter „UkrLandFarming“, das Fremdkredite in geschätzter Höhe von 1,6 Milliarden US–Dollar bedienen muss, stehen wiederum der US–Fonds Gramercy LLC, die Export–Import–Bank der USA und die Deutsche Bank.
Seit 1. Januar 2024 dürfen natürliche und juristische Personen, die Ukrainer sind, bis zu 10.000 ha Land kaufen. Vorher durfte jeder Bürger der Ukraine maximal 100 ha Land erwerben. Die Veräußerung von Staats– und Kommunalgrundstücken ist weiterhin verboten.