Für den angestrebten EU-Beitritt hat die ukrainische Regierung ihren Agrarsektor umfassend reformiert. Während in Brüssel aktuell der sogenannte „Screening-Prozess“ läuft und die ersten Verhandlungen in den Startlöchern stehen, stellen sich Landwirte und Investoren sowohl aus der EU, als auch aus der Ukraine die Frage: Was bedeutet der Beitritt für beide Seiten? Wo liegen Chancen für Investoren? Auf der DLG-Wintertagung in Münster trafen die Perspektiven der Ukrainer und die deutsche Sicht aufeinander.
Die Ukraine macht sich bereit: Gleiche Normen wie in der EU
„Die ukrainische Regierung hat in den vergangenen Jahren in einem unfassbaren Tempo Gesetze erlassen, um die EU-Mitgliedschaft herbeizuführen“, sagte Dr. Alex Lissitsa, Präsident des Ukrainian Agribusiness Club und Vorstandsvorsitzender von IMC SA, zu Beginn des Impulsforums. Die zentralen Verordnungen zu Pflanzenschutzmitteln seien zum Beispiel an die EU-Standards angeglichen worden. „Die Landwirte werden langsam mit den gleichen Bürokratien und Normen der EU-Landwirte konfrontiert.“ Lissitsa sagte: „Allein der Austausch von bisher eingesetzten Insektiziden kostet uns 20 € pro ha.“ Bei einer 120.000 ha starken Agrarholding summiere sich das.
Auch einen ESG-Nachhaltigkeitsbericht erstellt sein Unternehmen und verankert die verbindliche Umsetzung ökologischer Maßnahmen wie etwa die Reduktion von Treibhausgasen und Pflanzenschutzmitteln in Bankkrediten. Lissitsa präsentierte die IMC SA so als Beispiel für die Bemühungen der meisten Agrarunternehmen in der Ukraine.
Angst vor Marktüberschwemmung und Flächenprämien – „falsche Narrative“?
Seit Jahren setzt sich Lissitsa offen für den EU-Beitritt ein. Er will die „falschen Narrative“, Ängste und Vorurteile, die seiner Meinung nach vermehrt in den europäischen Staaten kursieren, mit öffentlichen Diskussionen aus dem Weg räumen. Dem stimmt auch Prof. Dr. Alfons Balmann vom Leibniz-Instituts für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien zu.
Die Angst vor ukrainischen Agrarimporten hält sich dennoch hartnäckig. Einige Nationen warnen vor einer Marktüberschwemmung. „Hier muss man wirklich darauf achten, dass diese emotionale Diskussion zahlen- und faktenbasiert bleibt“, sagte Balmann. So sei die Kritik am Zuckerimport aus der Ukraine kaum nachvollziehbar. „Der Anteil am EU-Markt liegt unter zehn Prozent – wenn wir den Import begrenzen, kaufen wir stattdessen Zucker aus Brasilien. Ist das wirklich die bessere Lösung?“, ergänzte Lissitsa.
Ukraine will keine Flächenprämien
Mit einem Beitritt der Ukraine würde die EU-Agrarpolitik zwar unter Druck geraten. Die Gemeinsame EU-Agrarpolitik (GAP) könne in ihrer jetzigen Form nicht bleiben. Doch Balmann meinte: „Das Letzte, was die Ukraine will, sind Flächenprämien. Sie wären bei Betrieben mit Hunderttausenden Hektar schlicht nicht zu rechtfertigen.“
Direktzahlungen würden zudem die ohnehin hohen Bodenpreise nur weiter nach oben treiben, ergänzte er. „Wir müssen die GAP grundsätzlich reformieren, nicht nur wegen der Ukraine, sondern weil sie auch innerhalb der EU immer schwerer zu vermitteln ist“, sagte Balmann.
Steigende Produktivität trotz Krieg
Vielmehr betonten die Diskutanten auf der Tagung die Potenziale der Ukraine als EU-Mitglied. Allen voran durch die hohe Produktivität könne die EU ihre Stellung auf dem Weltmarkt neu ausrichten. „Europa könnte zum Powerhouse der Agrargüter werden. Und wir alle wissen, dass Agrarrohstoffe durchaus auch geopolitisch eingesetzt werden können“, so Dr. Martin Schneider von der Leipziger IAK Agrar Consulting GmbH.
Entscheidend für die Effizienz der Ukraine sind technologische Innovationen und eine Digitalisierung, die ihresgleichen sucht. Lissitsas IMC SA habe die Maiserträge seit 2012 von 6 t/ha auf 10 t/ha gesteigert. „Wir haben alle Prozesse digitalisiert – vom Einkauf über das Bodenmanagement bis zur Buchhaltung“, berichtete Lissitsa. Der größte Treiber ist der Fachkräftemangel, so der Unternehmer. „Wir haben kaum noch Arbeitskräfte. Die Männer kämpfen an der Front, die Frauen, die auf dem Land zurückblieben, sind meist schon älter. Ohne Automatisierung könnten wir nicht überleben“, sagte er.
Nach dem Krieg folgt die Neuausrichtung der Landwirtschaft
Nach dem Krieg wird sich die ukrainische Landwirtschaft also grundlegend verändern müssen. „Die kleinbäuerliche Schweinehaltung in Hauswirtschaften, die fast die Hälfte der Produktion ausmacht, wird verschwinden“, prognostizierte Lissitsa. „Wir brauchen moderne, EU-konforme Schlachthöfe und eine stärkere Wertschöpfung im Land.“ Hier liege großes Potenzial für Investoren.
Proteinproduktion für Europas Schweine
Weitere Chancen sehen die drei Experten in der Proteinproduktion für die europäische Schweinefütterung. „Wir exportieren Unmengen Mais nach China, wo Protein für die dänische Schweinehaltung produziert wird. Warum nicht direkt in Europa eigene Verarbeitungsanlagen bauen?“, fragte Lissitsa. Weitere Chancen sieht die Runde im Obst- und Gemüseanbau und der Sortenzüchtung.
Die laut Lissitsa unabwendbare Aufgabe alter Strukturen sei für die Ukrainer sicher nicht leicht. „Hier geht es um nationale Traditionen, die aussterben, auch durch die neuen Vorgaben. Das benötigt viel Erklärungsarbeit“. Trotz der Fortschritte steht der Ukraine noch ein langer Weg in die EU bevor.